Meßwagen

[266] Meßwagen (instruction carriage, testing car; wagon dynamomètre; carro di misurazione) sind Eisenbahnwagen, die für bestimmte Untersuchungen mit Meßvorrichtungen versehen sind. Es bestehen hauptsächlich folgende 3 Arten von M.:

1. M. zur Prüfung der nützlichen Zugkraft der Lokomotiven (sog. Dynamometerwagen).

2. M. zur Untersuchung der Vorgänge an durchgehenden Luftbremsen (Bremsmeßwagen).

3. M. zur Untersuchung der Lage und Güte des Oberbaues (Oberbaumeßwagen).

Zu 1. Dynamometerwagen müssen in erster Linie mit einem Zugkraftmesser, Dynamometer (s.d.) versehen sein, um die von der Lokomotive ausgeübte nützliche Zugkraft zu messen. Der Zugkraftmesser kann entweder als Zugvorrichtung zwischen der Lokomotive und dem M. eingehängt sein, oder er ist besser in das Wagenuntergestell eingebaut. Die Durchbiegung der auf Zug oder Druck beanspruchten, sorgfältig geeichten Federn des Zugkraftmessers oder der hydraulische Druck eines Preßzylinders wird im Wageninnern auf einen fortlaufenden Papierstreifen aufgezeichnet. Dieser wird am Meßtisch entweder durch ein Uhrwerk gleichlaufend mit der Zeit oder durch ein Räderwerk von einer Wagenachse aus angetrieben, so daß die Vorrückung des Papierstreifens im Verhältnis zum zurückgelegten Wege stattfindet. Bewegt sich der Papierstreifen in Abhängigkeit vom Weg, so bildet die Fläche unter der Zugkraftschaulinie mit Rücksicht auf die vorhandenen Maßstäbe ein Maß für die geleistete Nutzarbeit der Lokomotive. Es wird die Schreibvorrichtung häufig mit einer Planimeterrolle versehen, die die Summe der geleisteten Arbeit fortlaufend bestimmt. Auf dem Papierstreifen werden selbsttätig Zeit- oder Wegmarken eingezeichnet und nach Bedarf von den Beobachtern auch Marken für besondere Bahnstellen (Kilometer, Hektometer, Gefällsbrüche) oder Vorgänge (Indizierungen und Messungen) eingetragen. Oft werden diese Marken vom Lokomotivführerstand aus elektrisch besorgt. Für einen Dynamometerwagen ist ein genauer selbstaufzeichnender Geschwindigkeitsmesser unerläßlich. Gewöhnlich wird die Geschwindigkeit am Papierstreifen des Meßtisches gleichzeitig mit der Zugkraftschaulinie aufgezeichnet. Seltener ist am Geschwindigkeitsmesser eine besondere Aufzeichnung vorhanden. Ferner gehören zur Ausrüstung vollkommener Dynamometerwagen Windgeschwindigkeitsmesser, Winddruckmesser und Windrichtungsmesser, da die Größe des Fahrwiderstandes von der Stärke und Richtung des Windes empfindlich abhängig ist. Bei genauen Messungen muß daher jederzeit Windstärke und -richtung festgestellt sein. Es ist auch möglich, durch Fernthermometer die Temperatur verschiedener wichtiger Meßstellen an der Lokomotive im M. abzulesen. So ist z.B. für genaue wärmetechnische Versuche die Bestimmung der Temperatur der Verbrennungsluft, der Rauchgase, des Kesseldampfes vor und hinter dem Überhitzer, des Arbeitsdampfes an verschiedenen Stellen u.s.w. erforderlich. Um diese Ablesungen im Lokomotivführerhaus richtig vorzunehmen, fehlt es an Raum, Ruhe und Zeit. Sie können viel zuverlässiger im M. ausgeführt werden. So ist ferner bei genauen Untersuchungen auch eine Analyse der Rauchgase erforderlich, die ebenfalls bei entsprechender Einrichtung im M. durchgeführt werden kann. Oft sind in Dynamometerwagen auch Beschleunigungs- und Verzögerungsmesser angebracht, die bei Selbstaufzeichnung eine Ergänzung der Messungen durch das Dynamometer bilden.

Beim M. der belgischen Staatsbahnen bildet ein Beschleunigungsmesser der Bauart Doyen die Hauptmeßvorrichtung. Ältere M. sind 2 oder 3achsig ausgeführt. Neuere Wagen sind jedoch gewöhnlich Drehgestellwagen. Da[266] von einer Achse die Bewegung der Meßvorrichtungen in Abhängigkeit vom Weg besorgt wird, erhält diese oft zylindrische Radreifen, um die Fehler zu vermeiden, die bei den gebräuchlichen kegelförmigen Radreifen eintreten würden. Die Meßachse bleibt auch meist ungebremst, um ein Gleiten der Räder derselben zu vermeiden, was ebenfalls Fehler in den Aufzeichnungen verursachen würde. M. zur Untersuchung der Zugkraft der Lokomotiven haben sich für den Lokomotivbau und Betrieb als ein unentbehrliches Hilfsmittel erwiesen. Gut ausgestattete M. besitzen die ungarischen, preußischen, bayerischen, italienischen Staatsbahnen, die Schweizer Bundesbahnen u.s.w.

Abb. 309 stellt den Grundriß des M. der belgischen Staatsbahnen dar.

Zu 2. M. für Untersuchung der Luftdruck- bzw. Luftsaugebremsen sind hauptsächlich mit Druckindikatoren versehen, die alle Druckerscheinungen bei den Bremsvorgängen in den Leitungen, Behältern, Ventilen und Bremszylindern nach der Zeit genau aufzeichnen. Da sich diese Vorgänge in sehr kurzen Zeiträumen abspielen, ist die Papiergeschwindigkeit sehr groß zu bemessen und es sind sehr genaue Zeitmarken mit Bruchteilen von Sekunden erforderlich. Gewöhnlich werden auch die tatsächlichen Pressungen an den Bremsklötzen und der Zug oder Druck in den Bremsklotzaufhängungen gemessen. Mitunter wird die bei den Bremswagen ausgeübte Beanspruchung der Zugvorrichtung mit Dynamometer wie bei den M. unter 1. gemessen, außerdem sind an den Bremsmeßwagen oft auch noch Vorrichtungen vorhanden, die den Druck an den Buffern messen. Neben Geschwindigkeitsmessern sind für Bremsmeßwagen Verzögerungsmesser unerläßlich. Ferner werden häufig auch Bremswegmesser benutzt, die, von der Wagenachse aus angetrieben, den Weg vom Beginn der Bremsung an aufnehmen. Dir erste Bremsmeßwagen wurde von Kapteyn für die Westinghouse-Bremsen-Gesellschaft ausgeführt. Gegenwärtig besitzen alle größeren Eisenbahnverwaltungen solche M. Die Bremsmeßwagen werden vielfach auch als Unterrichtswagen für die Handhabung und Untersuchung der Luftbremsen verwendet.

Zu 3. M. für die Prüfung des Oberbaues sind hauptsächlich mit Meßvorrichtungen versehen, die das Durchbiegen der Wagenfedern, das Verdrehen und das Seitenspiel der Achsen oder der Drehgestelle und das Schwanken der Wagen in Abhängigkeit vom zurückgelegten Weg aufzeichnen. Es wird hierbei aus dem Verhalten des Wagens auf den Zustand des Oberbaues geschlossen. Es muß erst die Erfahrung zeigen, in welcher Weise die gewonnenen Werte zu verarbeiten sind. Eine unmittelbare Messung am Oberbau selbst ist hierbei ausgeschlossen. Nur bei 3achsigen Fahrzeugen oder an M. mit 3achsigen Drehgestellen kann durch Aufnahme des lotrechten Spieles der Mittelachse gegen die beiden Endachsen eine unmittelbare Messung der Lage des Gleises im lotrechten Sinn erlangt werden. Wird diese Messung beiderseits vorgenommen, so kann man wohl auch über die Verhältnisse an den Überhöhungsrampen der Bogenein- und -ausfahrten Aufschlüsse erhalten. Messungen der Spurweite und der Größe der Überhöhung ist durch eigentliche M. kaum möglich. Hierfür eignen sich leichte Bahnwagen (Gleismesser, s.d.) mit Meßvorrichtungen, die von Hand verschoben werden, besser. Oberbaumeßwagen sind vorläufig nur wenige vorhanden. Ähnliche Meßvorrichtungen werden oft auch verwendet, um die Gangart der Wagen zu prüfen, doch prüfen sie eben unvermeidlich gleichzeitig den Oberbau. Zu denselben Zwecken werden M. oft auch mit Schwingungsmessern (Pallographen) versehen, die die Schwankungen einer freihängenden Masse nach den 3 Richtungen des Raumes aufzeichnen.

In Abb. 310 sind die Schaulinien enthalten, die eine von den österreichischen Staatsbahnen verwendete Meßvorrichtung für Prüfung der Gangart von Wagen und des Oberbaues aufzeichnet.[267] Die beiden oberen Schaulinien geben das lotrechte Spiel des Wagengestells gegen die Achsen auf der linken und rechten Seite an. Die Belastung ist nach abwärts, die Entlastung nach oben aufgetragen. Die wagrechte Linie stellt die normale Belastung der Tragfedern dar. Die dritte Linie von oben gibt das Seitenspiel der Drehgestellwiege gegen den Mittelzapfen an. Die folgende Schaulinie bildet ein Maß für die Verdrehung des Drehgestells gegen die Mittelstellung. Die beiden untersten Linien geben Zeit und Weg an, so daß jede Stelle der Strecke genau festgestellt werden kann. Die Schaulinien stellen die Fahrt durch eine krümmungsreiche Strecke mit Gleisbogen von 285–440 m Halbmesser dar.

Nicht selten sind die unter 1. bis 3. angeführten Meßvorrichtungen in einem Wagen vereinigt.

Abb. 311 zeigt den M. der Baltimore- und Ohio-Bahn.


Das stählerne Untergestell läuft auf zwei 2achsigen Drehgestellen. Hinter dem Vordergestell befindet sich ein Laufrad zum Antrieb des Papiervorschubs am Gerätetisch. Der Wagenkasten hat Holzgerippe mit Eisenverstärkung an den Stirnwänden, die Verkleidung besteht aus Holz. Die eine Endbühne ist geschlossen, die andere offen. Die erstere enthält nach Abb. 311 eine Werkbank, Ölbehälter und Ölpumpe für den mit Öldruck arbeitenden Zug- und Druckmesser. Dahinter liegt der 4∙3 m lange Versuchsraum mit dem Gerätetisch für die Messungen und Aufzeichnungen. Anschließend folgen, von einem Seitengang aus zugänglich, ein volles und 2 Halbabteile, Küche und Abort und der wieder die ganze Wagenbreite einnehmende Speiseraum, der auch als Schlafraum benutzt werden kann. Die elektrische Beleuchtung wird von einem Stromerzeuger mit Antrieb von der Achse und einem Edison-Stromspeicher für 300 Amp/Std. gespeist. Der Wagen hat einen besonderen Heizofen für Warmwasserheizung und Anschluß an die Dampfheizung. Um seitliche Beobachtungen zu erleichtern, hat der Versuchsraum 2 Seitentüren in der Außenwand.

Der Zug- und Stoßkraftmesser für einen Meßbereich bis 90.800 kg liegt unter dem Versuchsraum.[268] Seine Bauart ist in der Quelle näher erläutert. Zur Aufzeichnung der verschiedenen Meßschaulinien sind 26 Schreibzeuge in 2 Gruppen vorhanden, die sich über den 760 mm breiten, auf 3 verschiedene Geschwindigkeiten einstellbaren Papierstreifen verteilen. Unter den Meßgeräten finden sich Geschwindigkeitsmesser nach Boyer und 4 Dampfdruckzeichner nach Ashcroft zum Aufzeichnen von Schaulinien an 4 Lokomotivzylindern. Die Einrichtung wird durch elektrische Meßgeräte zum Untersuchen elektrischer Lokomotiven vervollständigt. Der Wagen enthält Schlafplätze für 8 Beobachter und 2 Begleitbeamte; er wiegt 52 t.

Literatur: Über französische Dynamometerwagen. Rev. gén. d. chem., Februar 1894, März u. Dezember 1903. – Belgischer Dynamometerwagen mit Beharrungsarbeitsmesser. Bulletin d. Int. Eis.-Kongr.-Verb., September 1905, April 1909, März 1911. – Preußischer M. Glasers Ann., 1911, S. 201. – Dynamometerwagen der Pennsylvania-Bahn. Engg. News 1907, S. 408. – Gleisprüfungen der französischen Nordbahn. Rev. gén. d. chem., Dezember 1903. – Railw. Age Gaz., April 1914: Der M. der Baltimore- und Ohio-Bahn.

Sanzin.

Abb. 309. Meßwagen der belgischen Staatsbahnen.
Abb. 309. Meßwagen der belgischen Staatsbahnen.
Abb. 310. Schaulinie der Meßvorrichtung für Prüfung der Gangart der Wagen.
Abb. 310. Schaulinie der Meßvorrichtung für Prüfung der Gangart der Wagen.
Abb. 311. Meßwagen der Baltimore- und Ohio-Bahn.
Abb. 311. Meßwagen der Baltimore- und Ohio-Bahn.
Quelle:
Röll, Freiherr von: Enzyklopädie des Eisenbahnwesens, Band 7. Berlin, Wien 1915, S. 266-269.
Lizenz:
Faksimiles:
266 | 267 | 268 | 269
Kategorien:
Ähnliche Einträge in anderen Lexika

Buchempfehlung

Hoffmann, E. T. A.

Seltsame Leiden eines Theaterdirektors

Seltsame Leiden eines Theaterdirektors

»Ein ganz vergebliches Mühen würd' es sein, wenn du, o lieber Leser, es unternehmen solltest, zu den Bildern, die einer längst vergangenen Zeit entnommen, die Originale in der neuesten nächsten Umgebung ausspähen zu wollen. Alle Harmlosigkeit, auf die vorzüglich gerechnet, würde über diesem Mühen zugrunde gehen müssen.« E. T. A. Hoffmann im Oktober 1818

88 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon