Sechstes Kapitel

[76] Die Ouvertüre war schon fast vorüber, als sie in die Loge traten. Die Damen beeilten sich, Platz zu nehmen; denn schon sahen viele aus dem Zuschauerraume herauf. Friedrich und Kingscourt waren von der Pracht dieses Opernhauses überrascht. Ja, der Bau hatte aber auch fünf Jahre gedauert und war von der neuen Gesellschaft subventioniert worden. Ein gewöhnliches Theater stand in der Regel binnen Jahresfrist vollendet da, wenn die Genossenschaft nur erst vereinigt war.

In der Loge nebenan saßen zwei geputzte, mit zu viel Edelsteinen geschmückte Damen, eine bejahrte und eine junge und zwischen ihnen ein älterer Herr. Diese grüßten auffallend devot, und es kam Friedrich vor, wie wenn Littwaks den Gruß eher ablehnten als erwiderten. Die ältere Dame und den Herrn glaubte er schon irgendwo gesehen zu haben, in einer fernen Zeit.

»Wer sind die Leute?« fragte er David leise.

Dieser zuckte die Achseln:

»Ein Herr Laschner mit Frau und Tochter.«

Laschner! Der reiche Börsenmann von Wien. Friedrich sah plötzlich den Abend von Ernestine Löfflers Verlobung vor sich. Es war eine schmerzliche und komische Erinnerung.[76]

»Das muß ich sagen: die hätte ich hier nicht erwartet.«

»Sie sind eben auch nachgekommen, als unser Haus fertig war«, erklärte David. »Man findet ja jetzt hier dieselben Bequemlichkeiten wie in den Großstädten Europas. Man findet aber auch, wenn man ein Laschner ist, dieselbe Verachtung wieder, die man dort genoß. Wir haben das Geld nicht abgeschafft, mein lieber Kingscourt – aber es ist bei uns nicht alles. Die Mitglieder der neuen Gesellschaft sind wirtschaftlich so frei geworden, daß der ehemalige widerliche Respekt vor den reichen Leuten naturgemäß geschwunden ist. Herr Laschner kann Geld haben, kann ausgeben wieviel er will – den Hut zieht darum noch niemand vor ihm. Ja, wenn er ein anständiger Mensch wäre, so würden wir ihn gern gelten lassen. Was wir von jedem fordern ist das Gefühl und die Betätigung der Solidarität. Dieser Mensch aber hat sich nicht einmal bemüht, Mitglied der neuen Gesellschaft zu werden. Er wollte die Pflichten unserer Gemeinschaft nicht auf sich nehmen. So lebt er auch hier als ein Fremder. Er kann sich frei bewegen wie jeder andere Fremde; nur genießt er keine Achtung. Das müssen Sie begreifen.«

»Ob ich das begreife!« murmelte Kingscourt und blickte mit Geringschätzung nach der Loge des Protzen.

Der Vorhang ging auf. Man sah Volksszenen in Smyrna und den kommenden Propheten im Kreise seiner ersten Anhänger. Kingscourt bat seine Nachbarin Mirjam um Aufschluß über den Helden der Oper.

Das junge Mädchen sprach im Flüstertöne:

»Dieser Sabbatai Z'wi war ein falscher Messias, der am Anfange des siebzehnten Jahrhunderts in der Türkei auftrat. Es gelang ihm, eine große Bewegung unter den Juden des Orients hervorzurufen, aber später fiel er selbst vom Judentum ab und endete schmählich.«

Kingscourt nickte verständnisvoll:

»War also 'n janz miserabler Kerl. Da kann man natürlich 'ne Oper draus machen.«

Die Szene stellte den Platz vor der Synagoge zu Smyrna dar. Die Partei der gegen Sabbatai aufgebrachten Rabbiner sang ergrimmte Chöre, nachdem der falsche Messias mit seinen Freunden abgegangen war. Ein junges Mädchen, das für Sabbatai schwärmte, wagte es, der aufgeregten Menge mit einer großen Arie entgegenzutreten. Da kehrte sich die Wut der Leute wider die Verteidigerin und es wäre ihr ohne das Dazwischentreten des zurückkehrenden Propheten gewiß etwas Schlimmes angetan worden. Selbst auf die Feinde übte die Persönlichkeit des Volksverführers eine Macht aus. Die Erbitterten wichen vor ihm scheu zurück. Das Mädchen warf sich ihm zu Füßen. Er hob sie gütig auf und sang mit ihr, wie das in Opern zu geschehen pflegt, ein Duett. Sobald dieses zu Ende war, erfolgte der effektvolle Aktschluß. Gegen Sabbatai wurde der rabbinische Bann ausgesprochen, und im Finale erklärte der Messias seine Absicht, Smyrna in Begleitung seiner Freunde zu verlassen. Das junge Mädchen flehte ihn an, sie mitzunehmen sie wolle ihm folgen und ihm dienen, wo immer hin er seine Schritte lenke. Und der Vorhang fiel.

Die kleine Gesellschaft in Littwaks Loge plauderte im Zwischenakte weiter über den farbigen Helden dieser Oper.[77]

»Der Schwindler wird es jewiß zu was bringen«, sagte Kingscourt; »das kann ich mir denken.«

Frau Sarah meinte: »Ursprünglich scheint er ein Schwärmer gewesen zu sein. Erst als er den Zulauf der Gläubigen hatte, wurde er unehrlich.«

Mirjam zitierte lächelnd Goethes Wort: »Jeglichen Schwärmer schlagt mir ans Kreuz im dreißigsten Jahre – kennt er nur einmal die Welt, wird der Betrogene der Schelm.«

»Merkwürdig ist nur«, bemerkte Friedrich, »daß solche Abenteurer immer wieder Glauben finden konnten.«

David entgegnete:

»Mir scheint, das hat einen tiefen Grund. Das Volk glaubte nicht, was sie sagten, sondern sie sagten, was das Volk glaubte. Sie kamen einer Sehnsucht entgegen. Nein, noch richtiger: sie kamen aus der Sehnsucht hervor. Das ist es. Die Sehnsucht macht den Messias. Nun müssen Sie denken, was das für arme dunkle Zeiten waren, in denen ein Sabbatai oder seinesgleichen erschienen. Unser Volk war noch nicht imstande, sich auf sich selbst zu besinnen und da berauschte es sich an solchen Gestalten. Spät erst, am Ende des neunzehnten Jahrhunderts, als schon alle anderen zivilisierten Völker ihr Selbstbewußtsein erlangt hatten und es betätigten, kam auch unser verstoßenes Volk zu der Erkenntnis, daß es das Heil nur von der eigenen Kraft und nicht von phantastischen Wundertätern erwarten dürfe. Nicht eine einzelne Person, wohl aber die erwachte und rührige Volkspersönlichkeit müsse das Erlösungswerk vorbereiten. Auch die Frommen sahen endlich ein, daß in dieser Auffassung nichts Gottwidriges enthalten sei. Gesta Dei per Francos, hieß es einst bei den Franzosen – Gottes Taten durch die Juden! sagen unsere echten Frommen, die sich nicht durch parteiische Rabbiner verhetzen lassen. Welcher Werkzeuge sich Gott für seine unerforschlichen Zwecke bedienen will, das steht bei ihm. So war das geklärte Raisonnement unserer Frommen, als sie sich dem nationalen Werke begeistert anschlossen. Und so hat sich das jüdische Volk wieder erhoben.«

»Bravo!« brummte Kingscourt.

In diesem Augenblick wurde an die Logentür geklopft. Auf Davids »Herein!« schob sich mit unterwürfigem Lächeln ein befrackter graubärtiger Herr in die Loge. Es war derselbe, den Friedrich bei der Ankunft auf dem Hafendamme gesehen hatte, Herr Schiffmann aus dem Café Birkenreis.

»Ich bin so frei, Herr Littwak«, sagte er entschuldigend. »Ich hab' von unten gesehen hier oben einen alten Bekannten. Ich weiß nicht, ob der Herr Doktor sich noch kann erinnern an mich.«

»Gewiß, Herr Schiffmann!« lächelte Friedrich und streckte ihm die Hand entgegen.

»Merkwürdig, soll ich so leben! Sie sind also nicht gestorben?«

»Es scheint nicht ... Und Sie haben mich gleich widererkannt?«

»Auf Ehre, nein. Es is mir jemand zu Hilfe gekommen. Eine Dame, die Sie einmal gut gekannt haben. Raten Sie, wer?« Er lächelte vielsagend.[78]

Friedrich erschrak. Er ahnte plötzlich, wer es war, doch wagte er nicht, ihren Namen auszusprechen.

»Nu? Können Sie nicht raten, Herr Doktor? Haben Sie Ihre alten Freunde und Freundinnen vergessen?«

Friedrich sagte ein wenig rauh: »Ich weiß nichts von Freunden, die ich hier habe – außer diesen da.«

»Sie hat den Anfangsbuchstaben Ernestine!« schmunzelte Schiffmann.

»Wie? Fräulein Löffler?«

»Nein, Frau Weinberger! Sie werden doch wissen? Sie waren doch bei der Verlobung. Richtig, es was das letztemal, was ich Sie, Herr Doktor, gesehen hab'. Gleich drauf sein Sie verschwunden.«

»Ja, ja, ich entsinne mich. Und Fräulein – Frau Weinberger lebt auch hier?«

»Freilich! Da unten sitzt sie, neben mir. Ich werd' sie Ihnen zeigen...« Er neigte sich dicht an Friedrichs Ohr, so daß die anderen, die in den Zuschauerraum hinausblickten, ihn nicht hören konnten: »Unter uns gesagt, es geht ihr nicht am besten. Ihr Mann, der Weinberger, is doch ein Schlemihl. In Brünn hat er Pleite gemacht und dann war er in Wien Agent und zum Schluß is er da hergekommen, aber auch als Schlemihl. Wenn ich mich nicht hätt' angenommen um sie, so möchten sie gut ausschauen. Und Sie wissen doch, das war gewöhnt an seidene Kleider und Logen und Bälle. Jetzt, wenn ich ihr nicht manchesmal Theaterkarten schicken möcht', könnt' sie zu Haus sitzen und Trübsal blasen. Es ändern sich die Zeiten.«

Friedrich war von diesem Gerede angeekelt und wollte Schiffmanns vertraulichen Mitteilungen ein Ende machen: »Es würde mich allerdings interessieren, Frau Ernestine zu sehen. Wo sitzt sie?«

»In der vorletzten Reihe, am Eck. Wenn Sie sich Vorbeugen, können Sie sie sehen. Übrigens geh' ich jetzt hinunter. Wenn Sie mich auf meinem Platz werden sehen, neben mir sitzt ihre Tochter und dann sie ... Es war mir ein besonderes Vergnügen, Herr Doktor. Sie bleiben doch hier bei uns, hoffentlich? Jedenfalls längere Zeit?«

»Ich weiß nicht. Es hängt von den Umständen ab, Herr Schiffmann.«

»Also schön! Wenn Sie mich wünschen, brauchen Sie mich nur per Telephon rufen zu lassen ... Empfehle mich allerseits bestens, meine Damen und Herren.«

Er schob sich seitlich, wie er gekommen war, zur halbgeöffneten Logentür hinaus.

»Den mag ich nun wieder gar nicht«, bemerkte Kingscourt halblaut zu Friedrich, der die Achseln zuckte.

Der zweite Akt begann. Sabbatai hielt Hof in Ägypten. Die Szene zeigte ein üppiges Fest mit Gesängen und Tänzen. Aber Friedrich sah und hörte nicht viel davon. Er war in alte Träume versunken. Dort, neben Schiffmann saß sie. Zuerst unterlag er einer wunderlichen Täuschung. Ernestine Löffler sah noch genau so aus wie vor zwanzig Jahren. Dieselben jungen feinen Züge, dieselbe zarte Gestalt. War es möglich, daß zwanzig Jahre sie so gar nicht verändert hatten? Aber dann sah er seinen Irrtum ein. Dieses junge Mädchen war nicht Ernestine, sondern deren[79] Tochter. Frau Weinberger war die fette, verblühte, in allzu grelle Farben gekleidete Dame auf dem Nebensitze. Sie sah auch herauf, lächelte einladend und nickte lebhaft mit dem Kopfe, als Friedrich sich vor ihr verneigte.

In diesem Augenblick zerfiel etwas in Staub, was zwanzig Jahre überdauert hatte. In der Einsamkeit von Kingscourts Insel hatte er an Ernestine gelegentlich mit Wehmut zurückgedacht, sein erster Groll war milderen Stimmungen gewichen, und zum Schluß war diese ganze Liebe in verdämmernde Rosenfarben getaucht. Aber wenn er von ihr träumte, sah er sie in der Gestalt jener Zeit. Den natürlichen Vorgang des Alterns erblickte er nun plötzlich in einem Ergebnisse, das ihn betroffen machte. Er empfand Scham und auch Erleichterung. Um dieses Weib hatte er sich gegrämt. War es möglich?

Er wurde aus seinem Sinnen von einer warmen, lieblichen Stimme aufgeweckt.

»Wie hat es Ihnen gefallen?« fragte Mirjam.

»Gott sei Dank, daß es vorbei ist!« gab er zerstreut zur Antwort.

»Wie? So schlecht fanden Sie den zweiten Akt?«

Er war verlegen: »Nein, ich meinte nicht den zweiten Akt, Fräulein Mirjam! Ich mußte an etwas Altes denken, das ich noch für lebend hielt. Es ist aber tot.«

Sie sah ihn ein wenig erstaunt an und fragte nicht weiter.

Ein fremder Herr war in die Loge getreten. Er wurde vorgestellt: Herr Dr. Werkin, Sekretär der Präsidentschaft. Es war ein schmächtiger Mann mit kurzem braun und grauem Barte, hinter funkelnden Brillengläsern ein Paar forschender Augen. Dr. Werkin kam mit einem Gruße des Präsidenten, der die Herren Kingscourt und Löwenberg in seine Loge bat.

Kingscourt war verblüfft:

»Uns! Was ist das für'n Präsident? Und wieso kennt er uns arme Wüstenpilger?«

David erklärte lächelnd:

»Der Präsident unserer neuen Gesellschaft. Er sitzt dort drüben in der ersten Loge, der alte Herr mit dem schneeweißen Barte.«

Sie blickten hinüber.

»Alle Wetter – mir ist auch, als ob ich ihn kennte! Woher nur?« sagte Kingscourt.

Friedrich erinnerte sich: »Der Augenarzt von Jerusalem – Doktor...«

»Doktor Eichenstamm!« ergänzte David. »Er ist der Präsident, den wir uns gewählt haben.«

»Und der hat uns nach zwanzig Jahren wiedererkannt?« staunte Kingscourt noch immer.

Dr. Werkin sagte: »Seine Tochter hat die Herren erkannt und den Präsidenten auf sie aufmerksam gemacht.«

David wandte sich an den Sekretär:

»Darf ich mitkommen, Herr Doktor?«

»Gewiß, Herr Littwak. Der Präsident möchte von Ihnen etwas über Ihren Kampf mit dem Geyer hören.«

Sie ließen sich von Dr. Werkin nach der Präsidentenloge führen. In dem eleganten[80] kleinen Salon, der durch einen Türvorhang vom offenen Teile der Loge getrennt war, erwartete sie der alte Präsident stehend, auf einen Stock gestützt.

»Welch ein Wiedersehen, meine lieben Herren! nicht wahr?« sprach der Alte mit leise zitternder Stimme und reichte einem nach dem anderen die freie Hand.

»Ja, hol' mich der Deibel, Herr Präsident, wenn ich das alles erwartet habe.«

»Wir wollen uns setzen, meine lieben Herren – ich bin nicht mehr sehr rüstig, Sie sehen!« lächelte der Präsident und sank in den Lehnstuhl, den ein Diener heranschob. »Ja, ja – für unser Volk ist dies jetzt die bessere Zeit, aber für mich war es jene. Sie wissen: senectus ipsa morbus ... Nun, wie es kommt, so muß es uns Menschen recht sein.«

Dann deutete er auf die neben ihm stehende Dame, die sehr einfach in schwarze Seide gekleidet war: »Meine Tochter Doktor Sascha hat Sie erkannt und mich an den Tag von der Klagemauer erinnert. Ach, das ist weit, meine lieben Herren! ... Ja, ja, die einstige Klagemauer!«

»Die einstige?« sagte Friedrich. »Ist sie auch nicht mehr? Nicht einmal dieser letzte Rest?«

Der Präsident betrachtete ihn kopfschüttelnd: »Sie waren wohl noch nicht in Jerusalem, da Sie so fragen?«

David näherte sich bescheiden:

»Nein, Herr Präsident! Die Herren sind erst angekommen. Sie haben noch sehr wenig sehen können.«

Der Präsident legte dem Sprecher freundlich die Hand auf den Arm: »Ich freue mich, Sie zu sehen, mein lieber Littwak. Ich freue mich immer über Sie, besonders jetzt. Halten Sie nur aus in dem Kampfe! Sie haben recht, Geyer hat unrecht. Mein letztes Wort an unsere Juden wird sein: Der Fremde soll sich bei uns wohlfühlen! Und Sie, Littwak, Gott erhalte Sie so, wie Sie sind ... Sie haben noch wenig von unserem Lande kennengelernt, meine lieben Herren? O doch, Sie kennen einen unserer Besten. Auf diesen David Littwak da bin ich stolz, wie wenn ich etwas dafür könnte, daß er so tüchtig und rechtschaffen ist.«

David war blutrot geworden. Er senkte die Augen wie ein Knabe und stammelte: »Herr Präsident!...«

»Lassen Sie es sich gefallen, Littwak, daß ich Sie ins Gesicht lobe. Ich bin ein alter Mann und will von Ihnen nichts erschmeicheln ... Sehen Sie, meine lieben Herren aus der Fremde: ich bin die Welle, die geht, und er ist die Welle, die kommt ... Gib mir auch ein Täßchen Tee, Sascha!«

Der Tee wurde nach russischer Art serviert. Als die Herren im Laufe des Gespräches erwähnten, daß sie zwanzig Jahre fern von der Kulturwelt gelebt hätten, meinte Dr. Sascha:

»Tut es Ihnen nicht leid um die versäumte Zeit? Sie hätten an so viel Großem mitwirken, so vielen Menschen Gutes erweisen können!«

»Nee, gar nicht leid, Fräulein Doktor!« erklärte Kingscourt. »Wir sind zwei ausgepichte Menschenfeinde. Wir wollen niemandem Gutes tun als uns selbst. Das ist unser olles Programm. Was, Fritze?«

»Sie scherzen!« sagte Sascha darauf. »Ich verstehe wohl, daß Sie scherzen. Gutes ist doch ein Glück, dem nichts anderes gleichkommt.«[81]

David sprach: »Fräulein Sascha redet aus Erfahrung, denn sie kennt dieses Glück. Sie leitet die größte Augenklinik der Welt. Wenn Sie es erlauben, Fräulein Doktor, will ich die Herren in Ihre Anstalt führen, sobald wir nach Jerusalem kommen. Dort ist schon vielen Menschen das Augenlicht gerettet oder wiedergegeben worden. Es war eine ungeheure Wohltat für die orientalischen Länder. Patienten kommen aus ganz Asien und Nordafrika. Der Segen, der von unseren Heilanstalten wie ein Strom ausgegangen ist, hat uns hier in Palästina und in den Nachbarländern noch mehr Freunde gemacht als alle unsere technischen und industriellen Einrichtungen.«

Fräulein Sascha wehrte das Lob ab: »Herr Littwak überschätzt meine geringen Leistungen. Ich habe nicht Neues gemacht. Aber wir haben einen großen Mann im Lande, das ist Steineck, der Bakteriologe. Das Institut Steineck müssen Sie kennenlernen, da werden Sie Ehrfurcht empfinden.«

»Haben Sie schon einen Reiseplan, meine lieben Herren?« fragte der alte Dr. Eichenstamm.

»Zunächst will ich meine Gäste nach Tiberias führen, Herr Präsident. Wir fahren morgen zu meinen Eltern.«

»Zum Pessachfeste, nicht wahr?« sagte der Präsident. »Grüßen Sie Ihre Eltern von mir, Littwak! Und wenn die Herren nach Jerusalem kommen, bringen Sie sie auch in mein Haus. Ich rechne darauf.«

Er reichte wieder jedem der Herren die Hand und sie nahmen Abschied, weil die hereindrängenden Klänge des Orchesters den Beginn des dritten Aktes anzeigten.

Als sie nun durch das leere Foyer schritten, rief Kingscourt:

»Scheint ein braver Kerl zu sein, euer Präsident. Aber 'n bißchen alt und gebrechlich. Warum habt ihr euch gerade den ausgesucht?«

»Das kann ich Ihnen mit einem Wort sagen, Mr. Kingscourt«, erwiderte David. »Wir haben ihn gewählt, weil er es nicht wollte.«

»Oho, das ist noch schöner.«

»Ja, wir haben einen Grundsatz bei unseren Weisen gefunden: Die Ehren gebe man dem, der sie nicht sucht!«[82]

Quelle:
Athenäum Verlag, Königstein, 1985, S. 76-83.
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