Zweites Kapitel

[127] Die Nachtischfeier folgte, und als sie mit allen Vorschriften der Hagadah fertig waren, gingen sie in den Salon hinüber, wo schon der Phonograph mit Joes Erzählung auf einem Tischchen bereitstand, Es war der Kingscourt wohlbekannte Apparat, verbessert durch eine einfache automatische Vorrichtung, welche die Rollen nacheinander abgleiten ließ. Die ganze Erzählung konnte so abgespielt werden, ohne daß eine Unterbrechung fühlbar geworden wäre. Wollte man aber eine Pause machen oder sich etwas wiederholen lassen, so genügte ein Handgriff, um die Walze aufzuhalten oder einige Sätze weit zurückzustellen. Alle hatten auf Lehnstühlen und Sofas Platz genommen. David setzte sich an das Tischchen, stellte den Schalltrichter nach den Zuhörern hin, drückte einen kleinen Knopf an dem Apparat und sagte:

»Unser Freund Joe Levy hat das Wort.«

Im Phonographen schnurrte es ein wenig, dann wurde mit völliger Deutlichkeit eine kraftvolle Mannesstimme laut:


»Meine geehrten Anwesenden!

Ich soll Ihnen über die neue Judenwanderung berichten. Die ganze Sache wahr sehr einfach. Ich glaube, es wird zuviel Wesens darauf gemacht. Um die politische Vorbereitung hatte ich mich nicht zu kümmern. Glücklicherweise. Ich bin kein Politiker, war es nie, werde es nie sein. Ich hatte meinen Auftrag und führte ihn aus. Unsere Gesellschaft war unter dem Titel »Neue Gesellschaft für die Kolonisierung von Palästina« gegründet worden. Sie hatte mit der türkischen Regierung einen Besiedlungsvertrag geschlossen. Die Bedingungen dieses Abkommens sind aller Welt bekannt. Als ich vor Abschluß des Charters gefragt wurde, ob wir die großen Geldleistungen an den türkischen Staatsschatz alljährlich würden erschwingen können, bejahte ich es unbedingt. Bei Unterzeichnung des Charters hatten wir der türkischen Regierung zwei Millionen Pfund Sterling bar zu erlegen. Dazu kam noch die jährliche Abgabe von fünfzigtausend Pfund Sterling durch[127] dreißig Jahre und ein Viertel des Reinerträgnisses der »Neuen Gesellschaft für die Kolonisierung von Palästina«, ebenfalls an den türkischen Staatsschatz zu entrichten. Nach Ablauf der ersten dreißig Jahre aber werden wir bekanntlich den Reinertrag der neuen Gesellschaft mit der türkischen Regierung teilen, falls diese es nicht vorzieht, den letzten zehnjährigen Durchschnitt der von uns erhaltenen Geldleistungen als für immer gleichbleibende Abgabe zu beziehen. Die Erklärung hierüber hat uns die türkische Regierung im siebenundzwanzigsten Vertragsjahre kundzumachen. Wir können allerdings schon heute vermuten, daß die türkische Regierung lieber den halben Reinertrag der neuen Gesellschaft in Anspruch nehmen wird, weil dabei für sie viel mehr herauskommt. Für diese Abgaben erhielten wir die Verwaltung der zu besiedelnden Gebietsteile, deren Oberhoheit dem Sultan dabei erhalten blieb.

Nun waren das freilich sehr große Geldleistungen und es regten sich anfänglich Zweifel, ob die neue Gesellschaft so gedeihen könne. Das Land war bettelarm und unsere Ansiedler sollten aus dem Proletariat aller Länder herkommen. Zwar gab es mehrere große Stiftungen für jüdische Nationalzwecke. Ihr Gesamtbetrag wurde Ende 1900 mit zwölf Millionen Pfund Sterling festgestellt. Aber es waren ja außer den Zahlungen an die türkische Regierung noch große Aufwendungen für den privatrechtlichen Ankauf von Grund und Boden, für das Ansiedeln ganz mittelloser Menschen, für die Urbarmachung, Bepflanzung, Aufbesserung des Landes nötig. Woraus sollten alle diese Erfordernisse bestritten werden? In unserem engeren Komitee gab es Furchtsame, die den Zusammenbruch des Unternehmens vorhersagten. Meine Freunde und ich trugen den Sieg über diese Bedenken davon. Es gelang uns, darzutun, daß wir die Berechnung nicht nur auf Grund des Vorhandenen anstellen müßten, sondern auch auf Grund dessen, was nach aller menschlichen Erfahrung durch den Beginn unserer Arbeiten hinzukommen würde. Unser für die Zukunft errichtetes Werk würde auch durch diese selbst erhalten und gestärkt werden. Nach zehn Jahren sind die Knaben, die wir hinführen, Männer. Wenn wir Menschen haben, haben wir alles. Die Menschen aber bringen wir selber hin, erziehen sie, wie wir sie brauchen und benützen sie, wie es uns und ihnen, das heißt der Gemeinschaft, frommt. Es ist das einfachste Raisonnement von der Welt. Man macht es im kleinsten Ländchen, bei den unbedeutendsten Völkern. Nur die Juden hatten dieses ABC des Volkstums verlernt.

Es kam noch ein Wichtigeres hinzu, das unsere Juden merkwürdigerweise nicht wußten, obwohl sie es täglich auf anderen Gebieten ausübten: die Unternehmungslust! Ich will dazu ein Beispiel geben. Als zu Ende des neunzehnten Jahrhunderts die Goldfunde im unwirtlichen Klondyke gemacht wurden, strömten erwerbshungrige Scharen nach dem eisigen Alaska. Ich spreche nicht von den Goldsuchern, sondern von den Unternehmern, die sich den Goldsuchern an die Fersen hefteten. Plötzlich wanderten Betten, Tische, Stühle, Hemden, Stiefel, Röcke, Konserven, Weinflaschen, Ärzte, Lehrer, Sänger nach Klondyke – mit einem Wort, alles, was man braucht und nicht braucht, wanderte hin, weil einige Leute dort Geld in der konzentriertesten Form erlangten. Die Nachströmenden waren nur zum Teile Goldgräber. Sie gingen nicht dem Verdienste nach, der in[128] der Erde verborgen war, sondern dem, der schon zutage lag. Sie wollten an dem bereits gefundenen Golde verdienen.«

Der Professor konnte sich an dieser Stelle nicht enthalten, ein lautes »Sie verstehen?« dazwischenzurufen, aber sein Bruder zischte ihn so heftig nieder, daß er beschämt schwieg. Und der Phonograph sprach weiter:

»Ich habe dieses grelle Beispiel gewählt, um zu zeigen, wie jede Erwerbsgelegenheit, wenn sie den Unternehmungsgeist anspricht, schnell noch andere Erwerbsgelegenheiten schafft. Jeder praktische Mensch weiß das beinahe instinktiv, ohne erst auf die Professoren der Nationalökonomie zu warten, die es ihm in geheimnisvollen Ausdrücken erklären. Tatsächlich gehörten wir Juden schon seit langer Zeit zu den findigsten Unternehmern. Nur auf unsere eigene Zukunft hatten wir früher nie wirtschaftliche Hoffnungen gebaut. Warum? Weil die Sicherheiten fehlten. Wenn die Sicherheiten aber geschaffen wurden, mußten wir in diesem Lande mindestens dieselbe Unternehmungskraft betätigen wie in anderen Ländern.

Darum machte mir das Hervorkommen der notwendigen Kapitalien keine übermäßige Sorge. War das Land bereit und die Einwanderung eingeleitet, so mußte jedes angemessene Gelderfordernis aufzubringen sein. Und darum bejahte ich die Frage, ob wir die Geldleistungen an die türkische Regierung in diesem Umfange auf uns nehmen könnten, ohne befürchten zu müssen, daß er uns dann an den Investitionskapitalien fehlen werde. Das war von mir kein Experiment. Es war die Anwendung von weltalten Tatsachen und Erfahrungen.

Der Charter wurde abgeschlossen. Wir erlegten die Bezahlung. Da mir von diesem Augenblick an die Leitung der Kolonisation übertragen war, bedang ich mir vor allem aus, daß der Charter vorläufig noch nicht veröffentlicht werden dürfe. Ich wollte kein tumultuarisches Einwandern haben. Es wäre gewiß zu argen Unordnungen gekommen. Die ärmsten, gierigsten Leute wären hierhergestürzt, Kranke und Alte hätten sich hergeschleppt. Wir würden vor allem anderen Hungersnot und Epidemien gehabt haben. Es gibt ein altes französisches Theaterstück, das heißt: die Furcht vor der Freude. So wie es darin zugeht, so hatte auch ich Furcht vor der Freude meiner armen Juden. Ich mußte sie behutsam vorbereiten. Ich mußte auch uns vorbereiten.

Das Direktorium der neuen Gesellschaft wurde eingesetzt. Das Direktorium ernannte mich zum Generalmanager auf fünf Jahre. Dann erhielt ich für die ersten Ausgaben den Kredit von einer Million Pfund eingeräumt. Einer meiner Ingenieure meinte, das sei wenig...«

»Verdammt wenig!« schrie Kingscourt und winkte heftig: »Stoppen Sie 'mal den Klapperkasten!«

David hatte den Phonographen schon zum Stillstand gebracht.

»Wenn Sie mich ollen Meerjreis ernstlich aufklären wollen, müssen Sie mir jefälligst einiges sagen, sonst versteh' ich Ihren janzen Joe mitsamt seinem Telephonographen nich ... Was ist das für 'ne neue Jesellschaft? Ist das dieselbe, von der in Neudorf mehrstenteils die Rede war? Und was ist das für'n Direktorium? Und woher haben sie das Jeld, wenn's auch nich viel ist?«[129]

David nickte mit dem Kopfe:

»Alle diese Fragen begreife ich. Joe Levy glaubte freilich nicht, daß er davon erzählen müsse, weil jedes Kind es weiß. Die neue Gesellschaft von damals und heute sind eins und dennoch verschieden. Es war ursprünglich eine Aktiengesellschaft und ist heute eine Genossenschaft. Die Genossenschaft ist vermögensrechtlich die Erbin der Aktiengesellschaft.«

»Sie verstehen?« rief der Professor.

»Nee! Haben die Aktionäre ihr Jeld hergeschenkt? Dann ist es 'n Märchen.«

»Mr. Kingscourt«, entgegnete David, »es wird Ihnen gleich klar sein, wenn Sie die verschiedenen Rechtspersönlichkeiten auseinanderhalten. Wir haben da drei juristische oder moralische Personen: die Stiftungen, die Ende 1900 ein Vermögen von zwölf Millionen Pfund hatten. Zweite Person: die Aktiengesellschaft, die von den unserer Sache ergebenen Londoner Finanziers mit einem Kapital von zehn Millionen Pfund Sterling gegründet wurde, nachdem die Erteilung des Charters gesichert war. Dritte Person: die Genossenschaft der Kolonisten. Die letzteren waren durch ihre auf den Kongressen gewählten Führer vertreten. Diese Führer setzten die Massen erst dann in Bewegung, als sie mit der Aktiengesellschaft über deren spätere Vergenossenschaftlichung einig geworden waren.«

»Sie erstaunen mich, edler Märchenprinz!« lachte Kingscourt. »Auf solche Sache wären Aktienmenschen, Syndikatshyänen eingegangen?«

»Es waren keine Syndikatshyänen, Mr. Kingscourt«, erwiderte David. »Es waren anständige Geschäftsleute, die sich mit einem anständigen Gewinne begnügten. Das Abkommen wurde zwischen Kapital und Arbeit gerecht getroffen. Das Geld allein, die Arbeit allein konnten den Schwierigkeiten nicht beikommen. Die Geldleute sollten ihre Sicherheit haben, die Arbeitsleute auch. Wäre das nicht vorher in Ordnung gebracht worden, so mußte mit der Zeit eine oder die andere Ungerechtigkeit eintreten: entweder hätte sich das Volk über die Rechte der Aktionäre hinweggesetzt, oder es wäre in ihre Sklaverei geraten. Beiden wurde durch die Vereinbarung vorgebeugt, daß die Genossenschaft der Kolonisten berechtigt sei, nach Ablauf von zehn Jahren die Aktien der neuen Gesellschaft einzulösen. Als Ablösungssumme wurde die fünfprozentige Kapitalisierung des in den letzten fünf Jahren erzielten Durchschnittsertrages bestimmt. Die Ablösungssumme durfte aber nicht weniger als das tatsächlich eingezahlte Aktienkapitel nebst Zinsen betragen.«

Hier wagte Friedrich ein wenig schüchtern die Bemerkung:

»Das scheint mir doch eine unmögliche Bedingung. Woher sollten die mittellosen Kolonisten solche Summen erschwingen, um die Aktien der Gesellschaft zurückzukaufen?«

»Nee, mein Sohn«, meinte Kingscourt, »mir ist es jetzt schon klar wie Kloßbrühe. Wenn die Kolonisation gelang, waren die Kolonisten nicht in Verlegenheit, sich das Geld zu verschaffen. Sie konnten es als aufstrebende Genossenschaft auch jepumpt kriegen.«

»Richtig!« sagte David. »Als die Genossenschaft an die Einlösung der Aktien zu gehen beschloß, nahm sie das notwendige Geld in Form einer vierprozentigen[130] Anleihe auf. Schon daran hat die Genossenschaft ein gutes Geschäft gemacht. Der Reinertrag vom fünften bis zum zehnten Jahre war durchschnittlich eine Million Pfund gewesen. Für die Einlösung der Aktien waren also zwanzig Millionen erforderlich. Mit einer jährlichen Zinsverpflichtung, die dem bisherigen Reinertrage gleichkam, konnte aber die Genossenschaft zu vier Prozent fünfundzwanzig Millionen Kapital erhalten. Es blieben somit nach Erwerbung des Aktienvermögens noch fünf Millionen Gewinn von dieser Operation übrig.«

»Verdammte Jungens!« staunte Kingscourt. »Wodurch war denn die Aktiengesellschaft so reich geworden?«

»Hauptsächlich durch die Wertsteigerung des Bodens, den sie angekauft hatte«, sagte David. »Diese Werterhöhung war den Arbeitern zu verdanken und ihnen mußte sie schließlich gerechterweise zugute kommen. Sie sehen jetzt auch, wie wir den Übergang des Bodens an die Gemeinschaft vollziehen konnten. Das Gemeingut wurde Eigentum der Genossenschaft, die von da ab den offiziellen Namen ›Neue Gesellschaft‹ trug.«

Architekt Steineck rief:

»Unseren lieben Gästen wird es vielleicht nicht gefallen, daß wir uns solcher anrüchigen Mittel wie Aktien und dergleichen bedient haben. Wir konnten uns aber nicht anders helfen.«

»Da irren Sie sich groß«, erwiderte Kingscourt, »wenn Sie mich für 'n solches Hornvieh halten. Ich haba ja in Amerika jelebt. Ich weiß doch, was 'ne Harke ist. Eine Aktiengesellschaft ist 'n Jefäß, da kann man Jutes und Schlechtes hineintun. Ebenso könnte einer sagen, eine Flasche sei verwerflich, weil man sie mit Gift oder Fusel füllen kann. Auch solche Kolonialgesellschaften hat's doch in der Jeschichte jenug jegeben. Es waren miserable und ausjezeichnete drunter. Die ostindische Kompagnie war doch nicht schlecht. In eurer neuen Jesellschaft find' ich sogar 'nen sittlichen Grundzug. Das mit der Verjenossenschaftlichung ... Nu möcht' ich aber hören, wie's weiter war. Lassen Sie doch 'mal Ihren Klapperkasten wieder laufen.«

Quelle:
Athenäum Verlag, Königstein, 1985, S. 127-131.
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