Zweites Kapitel

[166] Am folgenden Sonntag fanden im ganzen Lande die Delegiertenwahlen statt.

David war in der Nacht vom Samstag auf den Sonntag nach Haifa gefahren, um den Wahltag vom Mittelpunkte der Bewegung aus zu leiten. Die Partei Geyer machte überall die größten Anstrengungen. Geyers Zeitungen brachten den Tag über in rasch aufeinanderfolgenden Extraausgaben zuversichtliche Stimmungsberichte. Damit waren unbestimmte Verdächtigungen vermischt. Eines dieser unsauberen Blätter nahm den Generaldirektor der neuen Gesellschaft, Joseph Levy, besonders aufs Korn. Es wurde von der allzu unbeschränkten Gewalt dieses Mannes über die Millionen der neuen Gesellschaft gesprochen. Der Schreiber des Artikels beteuerte zwischendurch immer wieder, daß er Herrn Joseph Levy nicht anklagen wolle; es handle sich lediglich um das allgemeine Wohl, um die sauer erworbenen Groschen der Armen, um die Existenz der uns allen so teuren Gemeinschaft. Geschrieben war das Ganze in einem süßlichen Tone und mit Bibelworten fromm unterspickt.

Professor Steineck, der dieses Blatt im Beisein Kingscourts erhielt, wurde beim Lesen hochrot im Gesicht und stieß fort und fort dumpfe Wutrufe aus:

»Oh du Rabenvieh! ... Oh du Schweinehund! ... Oh du – du – du Geyer! ... Der Schuft weiß ganz gut, daß unser Joe die Ehrlichkeit selbst ist. Er weiß, daß Joe sich geschunden und gerackert hat, um die neue Gesellschaft in die Höhe zu bringen. Denn das weiß jedes Kind, das weiß die ganze Welt. Und dieser Lumpenkerl wagt es, Joe's Namen in seinen verruchten Lügenmund zu nehmen. Alles nur wegen der Wahlen – Sie verstehen? Das soll die Leute bei der Abstimmung beeinflussen, daß sie Delegierte der Opposition wählen. Sie verstehen?«

Grimmig zerriß er das Blatt, ballte die Fetzen zu einem Knäuel und schleuderte diesen mit einem Ausruf des Ekels zum Fenster heraus.

Kingscourt lachte: »Ob ich das verstehe! Geliebter Mikrobenvater, ich habe doch auch in der Welt jelebt. Ich werde doch wissen, was die Menschen für jemeine Bestien sind. Wissen Sie, offen jestanden hab' ich an manches in eurer neuen Jesellschaft[166] trotz Oojenschein nich jeglaubt. Die ganze Jeschichte war mir 'n bißchen zu rosenrot und potemkinisch. Seh' ich aber, daß ihr auch Halunken von allen Sorten auf Lager habt, dann fängt es an, mir einzuleuchten. Dann muß auch ich oller Wüstenpilger zujeben, daß die Jeschichte wahr ist.«

Im übrigen war aber in diesem Kreise von den Wahlen nicht mehr viel die Rede, so schwer es auch schien, dem Tagesereignis auszuweichen, das durch alle Ritzen hereindrang. Man bedauerte David Littwak, weil er sich so tief in den Streit eingelassen habe; doch nun kam er ja bald zur Ruhe. Er hatte oft erklärt, daß er gleich nach den Wahlen zu seinen gewohnten Arbeiten zurückkehren werde. Das Mandat eines Delegierten strebte er zwar an und wollte es ausüben, aber der Kongreß tagte nur wenige Wochen im Jahre.

Auf Mirjams Anregung benutzten Friedrich und die Freunde gerade diesen Wahltag, um einen von der Politik weit abgelegenen Ort aufzusuchen, nämlich eine Künstlerwerkstatt. Mirjam und Friedich fuhren mit dem Professor hinaus nach dem Atelier des Malers Isaaks. Das Haus des Meisters lag in einer stillen Gegend im Osten der Neustadt. Es enthielt Kunstschätze erlesener Art. Isaaks liebte die edle Geselligkeit, und die Feste, die er öfters in seinem Palästchen veranstaltete, waren durch ihre Pracht und Feinheit berührt.

Die Mauer des Künstlerhauses, die der Straße zugekehrt war, ließ noch nichts von den heiteren Eleganz des Inneren ahnen. Um so freudiger war man überrascht, wenn man den Vorhof betrat. Isaaks hatte sich ein reizendes Heim geschaffen. Die Vorhalle, deren Glasdach auf den vergoldeten Knäufen schlanker Marmossäulen ruhte, war mit alten Gobelins verkleidet. Hier standen einige meisterhafte Nachbildungen antiker Skulpturen. Die Gäste wurden von einem Diener weitergeführt und kamen in einen Hof, der die Mitte des Hauses einnahm. Es war dies eigentlich ein Salon ohne Zimmerdecke. Der blaue Himmel war sein Plafond. Auf drei Seiten war der mit großen Steinplatten belegte Hof von Säulengängen umgeben, auf der vierten Seite grenzte ihn gegen den Garten ein auf Rädchen verschiebbares vergoldetes Gitter ab, das jetzt weit geöffnet stand. Man blickte in den Garten hinaus, der um mehrere Stufen tiefer lag und nicht sehr groß war, jedoch durch eine kunstvolle Stellung der Gebüsche den Eindruck bedeutender Tiefe machte. Aus dem Palmengrün leuchtete da und dort der Marmor edler Bildsäulen. Im Hofe selbst befand sich in der Mitte ein Springbrunnen mit weitem Becken, dessen Wasser leise rauschten. Gute Lehnstühle von reicher Verschiedenheit der Formen waren in Plauderwinkeln gruppiert. Der breite, um einige Stufen erhöhte Säulengang, der von drei Seiten den Hof umgab, konnte in einen geschlossenen Raum verwandelt werden, indem man aus der Tiefe Glaswände aufsteigen ließ. Aber in der milden Jahreszeit war alles offen. Dieser Hof mit seinen Kolonnaden bildete einen einzigen herrlichen Saal. Es führten aus dem Säulengange hohe, geschnitzte Türen nach den anderen Räumen des Hauses. Einzelne waren geöffnet, man erblickte den Prunk ihrer Ausstattung. Es war der Palast eines Fürsten der Kunst.

Und dort die Tür, die jetzt aufging, war die seines Ateliers. Isaaks, dem die Gäste gemeldet worden, kam in Begleitung eines vornehm aussehenden Paares. Professor Steineck stellte Friedrich vor, und Isaaks nannte die Dame und den Herrn, die[167] bei ihm waren: Lord Sudbury und Lady Lillian, dessen Gemahlin. Sie hielten sich in Jerusalem auf, weil Isaaks das Porträt der schönen Lady Lillian malte. Meister Isaaks war ein stattlicher Mann von etwa vierzig Jahren. Er bewegte sich und sprach mit einer heiteren Würde; man sah ihm die Gewohnheit an, mit eleganten Leuten als Gleichgestellter zu verkehren. Und doch war auch er ein armer Judenjunge gewesen, der es nur von Talentes Gnaden zu seinem jetzigen Range in der Welt gebracht hatte.

Isaaks weckte durch seine liebenswürdige Art sehr bald ein Gefühl des Behagens bei seinen Gästen. Diener trugen Erfrischungen herbei. Dann brannten die Herren Zigarren an – duftende Kräuter, die, wie der Hausherr lächelnd bemerkte, in Palästina gewachsen waren. Es war das einzige, worauf er mit sichtlichem Stolze hinwies. »Blume des Jordans« nenne man die Sorte. Die Tabakpflanzungen lagen nämlich im Jordantal.

Während die Herren schmauchten und plauderten, hatte sich die schöne Lady Lillian der ihr schon von früheren Besuchen her bekannten Mirjam genähert und flüsterte ihr bittend etwas zu. Mirjam schien abzulehnen und milderte ihre Weigerung durch ein Lächeln. Es kam Friedrich vor, als hätte Mirjam beim verneinenden Kopfschütteln nach ihm hingeblickt. Auch Lady Lillian sah ihn daraufhin flüchtig an. Die Damen standen jetzt am goldenen Gitter, zwei schlanke Gestalten, die den Blick erfreuten. Mirjam, dunkelhaarig und von etwas kleinerem Wuchs, machte in ihrer sehr einfachen Kleidung doch keine schlechte Figur neben der hochragenden, blonden Engländerin, deren Toilette auf die Kunst eines Pariser Schneiders hinwies. Friedrich hatte ein unbestimmtes Gefühl von Stolz, als er das Judenmädchen, die Tochter des Hausierers, in so bescheidener und doch nicht unsicherer Haltung neben der englischen großen Dame sah. Und im Tone seines abwesenden Freundes Kingscourt dachte er sich:

»Alle Deibel – nu bringen wir es sogar zu einem bescheidenen Auftreten in der Gesellschaft.«

Aber die Lady und Mirjam schritten jetzt langsam in den Garten hinaus, und Friedrich, so gern er ihnen auch gefolgt wäre, mußte dableiben, denn das Gespräch wandte sich hauptsächlich an ihn. Ihm erklärte man Dinge, die er noch nicht wußte: die Rolle der Kunst und Philosophie in der neuen Gesellschaft. Jetzt erst, als Meister Isaaks mit seiner wohlklingenden Stimme davon sprach, fiel es Friedrich ein, daß ihm ein Aufschluß über die Fragen bisher gefehlt hatte. Er hatte den Tempel und die elektrischen Maschinen, das alte Volk und die neuen Formen seiner Vergesellschaftung in Altneuland gesehen. Aber wie stand es mit den Bedürfnissen feiner Geister in Kunst und Wissenschaft? Dies war ja vorzeiten ein gewichtiger Einwand der sogenannten modernen Menschen gegen die zionistische Bewegung gewesen. Man hatte die Idee von der Wiedergeburt des jüdischen Volkes als eine blödsinnige Reaktion, als eine Art chiliastischen Schreckens hingestellt. Und nun hörte Friedrich von Maler Isaaks, daß es mitnichten so war. In der neuen Gesellschaft herrschte alles eher als Volksverdummung, wenn man auch einen jeden nach seiner Fasson selig werden ließ. Glaubenssachen waren ein für allemal von der öffentlichen Beeinflussung ausgeschaltet. Ob einer im Tempel, in[168] der Kirche, in der Moschee, im Kunstmuseum oder im philharmonischen Konzerte die Andacht suchte, die ihn mit dem Ewigen verbinden sollte, darum hatte sich die Gesellschaft nicht zu kümmern. Das machte jeder füglich mit sich selbst aus.

Kunst und Philosophie hatten ihre unabhängige Pflegestätte in der jüdischen Akademie, die ja auch keine funkelnagelneue Erfindung war, sondern in der französischen Akademie ein jahrhundertealtes Vorbild besaß. Die Mittel zur Errichtung dieser Akademie waren von einem reichen Amerikaner gestiftet worden, der als Gast die Reise des Dampfers Futuro mitgemacht hatte. Der Geist vom Futuro sollte auch immer die jüdische Akademie erfüllen, dafür war in den Satzungen nach Möglichkeit vorgesorgt. Vierzig war die Zahl der Mitglieder, gleichwie im Palais Mazarin, und wenn ein Fauteuil durch Todesfall frei wurde, so wählten die übrigen Mitglieder den würdigsten Nachfolger. Die Mitglieder bezogen ein Gehalt, welches sie jeder Sorge um den Lebensunterhalt enthob, so daß ihre Kunst, Philosophie und Gelehrsamkeit nach keiner Gunst auszuschielen brauchte. Es ergab sich auch von selbst, daß die vierzig Juden der Akademie von nationalem Chauvinismus frei waren. Als dieses Institut errichtet wurde, kamen seine ersten Mitglieder aus verschiedensprachigen Kulturen zusammen und einigten sich auf dem Boden der Menschlichkeit. So schuf ihr Beisammensein einen Geist, welcher nicht entthront werden konnte, weil sie selbst sich die folgenden Genossen wählten. Die erste Satzung des Stifters aber lautete:

»Die jüdische Akademie hat die Aufgabe, das Verdienst einzelner um die Menschheit aufzusuchen.«

Diese Aufgabe war selbstverständlich nicht an die Grenzen des Landes gebunden.

Die Vierzig der jüdischen Akademie bildeten auch das Ordenskapital der Judenehre, die ebenfalls nach einem französischen Muster geschaffen war: nach der Ehrenlegion. Das Abzeichen war ein gelbes Band im Knopfloch. Friedrich hatte dieses Bändchen schon bei mehreren gesehen, aber es nicht sonderlich beachtet. Es war offenbar die wohlbekannte Ordensnarrheit der früheren Zeit. Dennoch machte es auf ihn einen gewissen Eindruck, als Meister Isaaks, der gleich dem Professor Steineck das gelbe Bändchen besaß, in dieser Weise davon sprach:

»Sie dürfen nicht glauben, lieber Doktor Löwenberg, daß wir das aus lauter Dummheit und Eitelkeit eingerichtet haben. Die Ehre verlangt auch nach einer Umlaufsmünze, das haben die Staatskünstler der alten Gesellschaft wohl erkannt. Warum hätten wir dieses Mittel verschmähen sollen, womit man für die Gemeinschaft so viel erzielen kann? Nur haben wir seinen Wert von vornherein hochzuhalten uns bemüht, indem wir es schwer erreichbar machten. Die höheren Grade sind sehr selten. Großmeister ist der Präsident unserer Akademie, und diese, das Ordenskapitel der Judenehre, besteht aus Leuten, die keinerlei Privatinteressen haben und von allem politischen Treiben entfernt sind. Daraus ergibt sich, daß diese Auszeichnung für Geld oder Parteidienste nicht zu haben ist. Wenn einer gute Geschäfte gemacht hat, so zeichnen wir ihn dafür nicht aus. Darum waren ja die Orden in der alten Gesellschaft lächerlich. Bei uns bedeutet dieses sonst so[169] komische Bändchen ernste Leistungen, die dazu dienten, das allgemeine Niveau zu heben. Die Farbe aber soll uns an die schwersten Zeiten unserer Volksgeschichte erinnern und uns noch im Erfolge zur Demut mahnen. Aus dem gelben Fleck, den unsere unglücklichsten, standhaften Väter tragen mußten, aus dem Zeichen der Schande haben wir das Zeichen der Ehre gemacht.«

»Sie verstehen?« rief Steineck.

Friedrich nickte nachdenklich.

In diesem Augenblicke meldete ein Diener den Doktor Marcus. Meister Isaaks erhob sich rasch und eilte dem weißbärtigen alten Herrn entgegen:

»Sie kommen wie der Wolf in der Fabel, Herr Doktor!« sagte Isaaks und stellte den Lord und Friedrich vor. »Herr Doktor Marcus ist der Präsident der jüdischen Akademie ... Ich habe meinen lieben Gästen soeben einiges von der Akademie erzählt. Lord Sudbury wußte ja das meiste schon, aber diesem Herrn, obwohl er ein Jude ist, war alles neu.«

»Wie ist es möglich?« fragte Doktor Marcus.

Friedrich berichtet mit wenigen Worten seine Schicksale. Der Präsident der Akademie hörte mit leisem Kopfschütteln zu. Dann sagte er:

»Vor zwanzig Jahren! Ja, ja, ich begreife Ihre Verwunderung. Und doch war schon alles vorhanden. Erinnern Sie sich der Worte des Koheleth: Was ist's, das geschehen ist? Eben das hernach geschehen wird. Was ist's, das man getan hat? Eben das man hernach wieder tun wird; und geschieht nichts Neues unter der Sonne...«

»Erlauben Sie, mein lieber Präsident!« schrie Steineck auf. »Das ist denn doch wohl nur cum grano salis zu verstehen. Alles, was ist, war noch nicht da, und alles, was kommen wird, liegt noch nicht hinter uns. Ich erinnere Sie nicht an Koheleth, aber an Stockton-Darlington. Sie verstehen?«

»Was ist das mit Stockton-Darlington?« erkundigte sich Lord Sudbury. »Meinen Sie die erste Eisenbahnlinie der Welt, die George Stephenson vor hundert Jahren baute?«

»Ganz recht, Mylord!« rief der Professor. »Wir haben in unserer Akademie vor einigen Tagen den Beschluß gefaßt, der gesamten zivilisierten Welt einen Vorschlag zu machen. Es soll im Jahre 1925 die Feier von Stephensons Tat begangen werden und zwar in würdiger Weise. Es sollen nämlich in der Minute, wenn die hundert Jahre voll sind, alle eben fahrenden Lokomotiven auf allen Linien der Erde drei lange Signalpfiffe ertönen lassen. Das ist die Stockton-Darlington-Feier, die wir proponieren. In der ganzen Welt werden die Menschen, die in dieser Minute im Kupee sitzen, an Stephenson denken müssen, an den Bringer der neuen Zeit ... Sie werden mir zugeben, mein guter Präsident, daß die Weisheit des Koheleth zwischen Stockton und Darlington entgleist.«

Doktor Marcus entgegnete freundlich:

»Das gebe ich gern zu, um so lieber, als ich es gar nicht bestritten habe. Ich dachte nur an die Koexistenz der Dinge, die mich oft beschäftigt. Es ist der Gedanke meiner Ruhe, meiner Beruhigung. Die Jahre oder Monate oder Tage, die ich noch im Lichte zu verbringen habe, sind mir darum angenehm. Ich sage keineswegs:[170] sie gefallen mir nicht. Es ist mein Trost, daß alle Dinge, die waren, da sind. Auch das Künftige ist schon vorhanden, und ich kenne es: es ist das Gute. So komme ich aus denselben Voraussetzungen zu einem anderen Schlusse als der Prediger, der Sohn Davids, der über Israel König war zu Jerusalem. Aber vielleicht hat auch der Prediger Salomo dasselbe gemeint, obwohl er sagte, daß alles ganz eitel sei, und obwohl er fragte, was der Mensch für Gewinn von all seiner Mühe unter der Sonne habe. Alles ist eitel, jawohl, wenn wir es aus dem vergänglichen Gesichtspunkte unserer Person ansehen. Aber es ist nicht eitel, wenn wir imstande sind, unsere eigene Person davon hinwegzudenken. Dann sind sogar meine Träume ewig, denn andere werden sie träumen, wenn ich nicht mehr da bin. Schönheit und Weisheit gehen nicht verloren, auch wenn ihre Hervorbringer sterben. Gleichwie es keinen Gebildeten gibt, dem die Erhaltung der Energie unbekannt ist, so müssen wir uns auch von dem Lehrsätze durchdringen lassen, daß es eine Erhaltung der Schönheit und Weisheit gibt. Ist etwa die Kunst der heiteren Griechen vergangen? Nein, sie wird in anderen Zeitaltern immer wieder neu geboren. Sind die Sprüche unserer Weisen etwa erloschen? Nein, sie leuchten fort, wenn sie auch am Tage des Glückes weniger sichtbar sind als in der Nacht des Unglücks. Darin gleichen sie allen Flammen ... Und was folgt daraus? Daß wir es uns sollen angelegen sein lassen, die Schönheit und Weisheit auf dieser Erde zu vermehren, bis zu unserem letzten Augenblick. Denn die Erde sind wir selbst. Wir sind von ihr und kehren wieder zu ihr hin. Sagt es doch schon Koheleth, und dem haben wir auch heute nichts hinzuzufügen: Die Erde bleibet aber ewiglich!...

Nach den Worten Doktor Marcus' schwieg man ein Weilchen. Jeder gab sich seinen Gedanken hin. Und in dieser Stille hörte man auf einmal den Gesang einer Frauenstimme, die durch Mauern und Türen gedämpft herausklang. Nun wollte erst recht keiner mit lauter Rede stören.

»Wer ist die Sängerin?« sagte Friedrich flüsternd.

»Wie, Sie wissen es nicht?« entgegnete Isaaks. »Fräulein Mirjam!« Der Meister erhob sich und schritt in den Säulengang. Er öffnete geräuschlos die Tür des Musikzimmers, in das die beiden Damen sich vorhin zurückgezogen hatten. Jetzt kam der herrliche Gesang voll heraus. Mirjam, die sich nicht belauscht wußte, sang der Lady Lillian Schumann und Rubinstein und Wagner, Verdi, Gounod – die Musik aller Völker vor. Unerschöpflich flossen die Melodien, und eine Seligkeit überkam den zuhörenden Friedrich im Kreise dieser erlesenen Geister, die still und hoch das Leben in den edelsten Formen verwirklichten: in Schönheit und Weisheit. Als aber die Sängerin Mirjam das Lied anhub, das er immer sehr geliebt hatte, das sehnsuchtsvolle Lied aus Mignon:

»Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn...« da sagte Friedrich halblaut vor sich hin:

»Dies ist das Land.«[171]

Quelle:
Athenäum Verlag, Königstein, 1985, S. 166-172.
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