Natur, die

[441] Die Natūr, plur. der doch nicht in allen Fällen üblich ist, die -en, ein schon seit langer Zeit aus dem Lateinischen Natura entlehntes sehr vieldeutiges Wort, dessen Gebrauch oft sehr schwankend und bestimmt ist. Es bedeutet überhaupt die wirkende Kraft, die Veränderungskraft, so wohl in jedem einzelnen Körper, als auch in allen Körpern zusammen genommen als eine einzige Kraft betrachtet.

1. In einzelnen Körpern, was einem lebendigen Geschöpfe von seiner Geburt an, und in weiterer Bedeutung, einem jeden für sich bestehenden Dinge von seinem Entstehen an, zukommt, von nasci geboren werden, so wie das gleichbedeutende Griech. φυσις von φυειν.

1) In engerer und gewöhnlicherer Bedeutung, die Verbindung des Mannigfaltigen in einem Dinge, so fern sie den Grund aller Veränderungen desselben enthält, welche von dem Wesen eines Dinges noch verschieden ist, die wirkende Kraft jedes Körpers nach der Art seiner Zusammensetzung. Der Plural findet hier nur Statt, so fern diese Kraft in mehrern Individuis betrachtet wird. Das Wasser ist seiner Natur nach naß, das Feuer warm, die Luft elastisch; oder, das Wasser ist von Natur naß u.s.f. Der Mond blieb seiner Natur nach kalt und unempfindlich. Wie viel Dinge gibt es nicht, deren Natur von aller forschenden Vernunft noch nicht hat ergründet werden können! Die von Natur nicht Götter sind, Gal. 4, 8. Eine Sache ist der Natur eines Körpers gemäß, wenn sie aus den Veränderungen erfolgen kann, deren er fähig ist.

In noch engerer Bedeutung, die ganze Veränderungskraft eines lebendigen Dinges, oder der Grund seiner eigenen Veränderungen. Die Natur Gottes, dessen unendliche Kraft; nach dem Griech. φυσις. Die göttliche Natur in Christo, die unendliche unumschränkte Veränderungskraft in demselben die Gottheit, zum Unterschiede von der menschlichen Natur oder Menschheit, d.i. der endlichen eingeschränkten Veränderungskraft; in welcher Bedeutung auch der Plural eingeführet ist, die beyden Naturen in Christo. Die Natur des Menschen, die bey seinem Entstehen geschehene Verbindung des Mannigfaltigen in ihm, und die darin gegründete Veränderungskraft, so wohl, so fern sie bey allen Menschen in vielen Stücken von einer und eben derselben Art ist, als auch so fern sie in jedem einzelnen Menschen auf mancherley Art eingeschränkt ist. Kinder des Zorns von Natur, Ephes. 2, 3. Der Unterricht, wo Kinder Stunden lang auf einerley Sache merken sollen, streitet mit der Natur eines zarten Kindes, Gell. Seine Natur überwinden. Die Naturen sind verschieden. Die Gewohnheit wird oft zur andern Natur. Seine Natur bringt es so mit sich. Meine ganze Natur (alle meine Veränderungskräfte) empörte sich in ein entsetzliches Grauen. Von Natur gutherzig seyn. Er kann sich von Natur nicht verstellen.


Mich, sprach sie, lockte jene Flur,

Und ich, zu lüstern von Natur,

Flog hin,

Gell.


Da denn diese Verbindung des Mannigfaltigen und darin gegründete Veränderungskraft, durch die imaginative Vorstellung oft als eine eigene Kraft, ja als ein eigenes für sich bestehendes Wesen angesehen wird; in welchem Falle es denn nur in der einfachen[441] Zahl allein üblich ist. Die Freundschaft, zu der wir von der Natur eingeladen werden, die so leicht Parteylichkeit des Herzens und wohl gar Selbstliebe wird, Gell. Wo die Natur nicht die beste Lehrmeisterinn ist, da arbeitet die Kunst umsonst, Weiße. Die Funken des Muthes, welche die verwandte Natur in mein junges Herz gelegt hatte, Dusch. Das große Interesse des Menschen liegt darin, daß er dieser Stimme der Natur, die ihn zum Schönen, zum Guten hinruft, gehorsam werde, Sulz. Das Glück ist nicht so liebreich gegen sie gewesen, als die Natur, Gell.


Warum hat die Natur dir so viel Reitz gewährt!

Gell.


2) Überaus häufig wird diese Veränderungskraft, besonders bey dem Menschen, unter allerley Einschränkungen gebraucht.

(a) In Ansehung des menschlichen Körpers allein, ist es die ganze Verbindung der flüssigen und festen Theile in jedem Menschen, und die darin gegründete Bewegungskraft. Eine gute, starke, gesunde, schwache Natur haben. Es sind nicht alle Naturen einerley. Unsere beyden Naturen sind sehr verschieden. In Krankheiten muß die Natur das Beste thun. Der Arzt ist nur ein Diener der Natur, kommt der Natur des Kranken zu Hülfe. Die Natur hilft sich selber.

(b) In der Theologie, wo die Natur der Offenbarung und zuweilen auch der Gnade entgegen gesetzet wird, ist jene die Fertigkeit des Gebrauches der bloßen natürlichen, d.i. dem Menschen bey seiner Entstehung mitgetheilten Kräfte; ohne Plural. Das Licht der Natur, die durch diese Kräfte erhaltene Erkenntniß, im Gegensatze der Offenbarung. Sieht man die Freundschaft bloß von der Seite der Natur an, so ist sie – weder Tugend noch Laster, Gell. In noch engerer Bedeutung wird in der Deutschen Bibel oft die ungeänderte Fortdauer der natürlichen Beschaffenheit des Menschen, nebst allen darin gegründeten eigenen Veränderungen, die Natur genannt, im Gegensatze der Gnade. Nach einer andern Figur heißt sie das Fleisch, im Gegensatze des Geistes, welcher letztere 2 Petr. 1, 4 auch die göttliche Natur heißt, die neue Einrichtung der Veränderungskraft.

(c) Oft ist die Natur, (gleichfalls ohne Plural,) so wohl im gemeinen Leben, als auch in den Wissenschaften und Künsten, die einem Dinge bey seinem Entstehen mitgetheilte Veränderungskraft, dessen erste ursprüngliche Beschaffenheit, mit Ausschließung aller von außen oder durch eigene freye Wahl herrührender Bestimmungen oder Veränderungen, wo sich wieder mehrere Unterabtheilungen anbringen ließen. So ist der Stand der Natur, derjenige Zustand, wo man sich die Menschen ohne alle bürgerliche Gesellschaft, folglich ohne alle von außen herrührende Einschränkungen oder Bestimmungen ihrer Veränderungskräfte denket. Im Stande der Natur leben. In einer andern Betrachtung wird die Natur den eingebildeten Bedürfnissen, erkünstelten Verschönerungen unsers natürlichen Zustandes entgegen gesetzet. Der Natur gemäß leben. Unsere künstliche Sprache hat die Sprache der Natur verderbt. Die Natur ist mit wenigem vergnügt. Der Natur getreu bleiben. Oft wird die Natur dem Unterrichte, und den durch Unterricht oder Übung erworbenen Fertigkeiten, oder der Kunst, entgegen gesetzt. Witz, welchen man von Natur und ohne Unterricht hat, heißt Mutterwitz. Das ist Kunst und nicht Natur. Ein Künstler zeigt in seinen Arbeiten lauter Natur, wenn er die angewandte Kunst auf eine geschickte Art zu verbergen weiß. Ein Mensch ist lauter Natur, wenn seine Handlungen keine gekünstelte oder von andern entlehnte Einschränkungen verrathen. Von einer geschminkten Person sagt man, sie sey nicht von Natur so.[442]

3) Oft pflegt man auch in weiterm Verstande gewisse äußere Verhältnisse, in welche jeder Mensch von seinem ersten Entstehen an gesetzet wird, die Natur zu nennen. Der Plural ist hier nicht gewöhnlich. Die Bande der Natur, der Blutsfreundschaft. Man sagt viel von der Empfindung der Natur zwischen Geschwistern. Die erhabenste Liebe zu Gott, die über die süßeste Liebe der Natur gegen einen Sohn siegt, Gell. Die Stimme der Natur, die Überzeugung von der Bestimmung unsers Verhaltens durch den Zusammenhang der Dinge. Ja 1 Cor. 11, 14 kommt auch der bürgerliche Wohlstand unter dem Nahmen der Natur vor: Lehret euch auch nicht die Natur, daß einem Manne eine Unehre ist, so er lange Haare zeuget?

4) In noch weiterer Bedeutung ist die Natur die Art und Weise des Daseyns einer jeden auch nicht für sich bestehenden Sache, die Verbindung des Mannigfaltigen in derselben; ohne Plural. Die Natur der Sache erfordert es. Das bringt die Natur der Sache schon mit sich. Die Treue der ehelichen Liebe gründet sich auf das gegenseitige Versprechen, und auf die Natur der Liebe, Gell.

2. Alle wirkende Kräfte aller körperlichen Dinge zusammen genommen und als eine Einheit betrachtet, eigentlich die zeugende Kraft in allen Dingen; wo man sie denn zuweilen wiederum als eine eigene für sich bestehende Kraft, ja wohl gar als ein eigenes für sich bestehendes und von Gott noch unterschiedenes Wesen zu betrachten pflegt. Der Plural ist auch hier ungewöhnlich.

1) Eigentlich. Hier hat die Natur alles versammelt, was sie schönes hat, um deinen Aufenthalt angenehm zu machen. O wie schön bist du, Natur, in deiner kleinsten Verzierung so schön! Geßn. Der Lauf der Natur, der Erfolg der Begebenheiten in der Welt, nach den Veränderungskräften der darin befindlichen Dinge. Die Schuld der Natur bezahlen, sterben. Die Natur thut keinen Sprung, weil alle Veränderungen der Körper nach und nach geschehen. Die Natur wirkt nicht nach ihrem Gefallen, sondern nach unveränderlichen Gesetzen. Der Philosoph schleicht der Natur in ihrem verborgenen Gange nach. Die Geheimnisse der Natur. Wo man sie denn oft wiederum der Kunst entgegen zu setzen pflegt.

2) Figürlich, der ganze Umfang aller zufälligen Substanzen. Das ist in der ganzen Natur nicht anzutreffen. In weiterer Bedeutung rechnet man oft alles, was möglich ist, oder seyn kann, mit zur Natur, dagegen man in engerm Verstande nur den ganzen Umfang aller körperlichen Dinge, und in noch engerm die körperlichen Dinge auf unserm Erdboden die Natur nennt. Die drey Reiche der Natur, die Vertheilung aller körperlichen Dinge auf dem Erdboden in drey Classen. Die Geschichte der Natur oder die Naturgeschichte, die Beschreibung dieser Körper, S. Geschichte. So allein und einzeln das Thier jedem feindlichen Sturme des Weltalls ausgesetzt scheinet, so ists nicht allein; es steht mit der ganzen Natur im Bunde, Herd. Ihm schmückt sich die ganze schöne Natur, Geßn. Was entzückt mehr, als die schöne Natur, wenn sie in harmonischer Unordnung ihre unendlich mannigfaltigen Schönheiten verschwendet? ebend. Überall bemerkt man Weisheit und Ordnung in der Einrichtung der Natur. In den bildenden Künsten verstehet man unter der Natur alle sichtbaren Gegenstände, welche der Künstler nachahmen kann. Die Natur nachahmen. Nach der Natur arbeiten. Der Natur schmeicheln, die Fehler an den sichtbaren Gegenständen in der Nachahmung verbergen. Der Plural thut hier eine üble Wirkung, weil in dieser und der vorigen Bedeutung alle wirkende Kräfte und die Körper, in welchen sie befindlich sind, als eine Einheit betrachtet werden.


Ein zärtliches Gefühl ging sanft durch die Naturen,

Dusch.


[443] Anm. Alle jetzt angeführte Bedeutungen ließen sich noch weiter eintheilen, wenn nicht dieser Artikel schon ohne dieß zu lang wäre. So sind auch, um ihm nicht ein allzu tabellarisches Ansehen zu geben, verschiedene Bedeutungen neben einander geordnet worden, welche einander eigentlich untergeordnet werden müssen.

Von Natur und von der Natur ist zweyerley. Dort bedeutet es die anfängliche Einrichtung eines Dinges, und hier wird die darin gegründete Veränderungskraft, als ein eigenes Wesen, oder doch als eine besondere Kraft angesehen. Die Weglassung des bestimmten Artikels ist, außer in dem ersten Falle mit von, nicht zu billigen.


Die uns Natur mitleidig eingesenkt,

Uz.


Dieses Wort findet sich im Deutschen zuerst zu Ottfrieds Zeiten, der Natura in uns im theologischen Verstande gebraucht. Vor ihm suchte man den Begriff des Lateinischen Ausdruckes durch andere Wörter zu erschöpfen. Kero gebraucht Chnuat, welches sonst fremde Wort mit der ersten Sylbe in Natur verwandt zu seyn scheinet, und chnuatlihho ist bey ihm von Natur. Notker gebraucht die Wörter Burte, Anaburt und Anauuiste, und selbst Ottfried nennet die beyden Naturen in Christo noch Gimach. So fern die Alten in der zweyten Hauptbedeutung unter der Natur auch die zeugende Kraft verstanden, wurde dieses Wort ehedem sehr häufig so wohl im mittlern Lateine, als auch im Deutschen von den Zeugungsgliedern gebraucht. Die weibliche Natur. Jetzt kommt nur noch das Beywort zuweilen in diesem Verstande vor; die natürlichen Theile. Im mittlern Lateine werden auch die zwey wesentlichen Theile des Menschen, Leib und Seele, Naturae hominis genannt; vielleicht aus Mißdeutung der beyden Naturen in Christo.

Übrigens wird dieses Wort fast in allen obigen Bedeutungen mit vielen andern zusammen gesetzt, welche hier nicht alle angeführet werden können, weil sie willkührlich sind, und jeder deren neue machen kann. Die vornehmsten und gebräuchlichsten sind folgende.

Quelle:
Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Band 3. Leipzig 1798, S. 441-444.
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