[711] Natur (v. lat. Natura), bezeichnet bald die den Dingen u. Erscheinungen angehörigen, nicht von außen an sie gebrachte Eigenthümlichkeit, bald den Inbegriff alles dessen, was überhaupt da ist u. nach eigenen inwohnenden Gesetzen ist u. wirkt. In der letzteren Bedeutung würde überhaupt nichts Existirendes von der N. ausgeschlossen werden können, u. darauf bezieht sich der Unterschied der Scholalastiker zwischen Natura naturans u. N. naturata (Gott u. Welt); in der ersteren Bedeutung stellt man der N. u. dem Natürlichen nicht nur das Übernatürliche u. Wunderbare, sondern auch (indem man den Begriff dessen, was von Natur ist, vorzugsweise auf das beschränkt, was unbewußt u. unabsichtlich entsteht, sich gestaltet u. wirkt), Alles gegenüber, was Product u. Ausdruck des bewußten Gedankens, der Absicht, der Kunst ist. Man versteht dann unter der N. eines Dinges, z.B. einer Pflanze, eines Thieres, eines Giftes etc., die ganze Summe von Eigenthümlichkeiten, charakteristischen Merkmalen u. Wirkungen, die ihm an sich selbst od. im Verkehre mit andern Dingen zukommen u. denen sich für die unreflectirte Auffassung sein Wesen zu erkennen gibt. Insofern jedoch das, was im Gebiete des Bewußtseins geschieht, also alles Geistige, ebenfalls durch eigenthümliche, von inneren natürlichen Bedingungen abhängende Gesetze u. Erscheinungsformen charakterisirt ist, würde auch das Geistige in den Umfang der N. fallen, u. daraus, daß man das Geistige in den Begriff u. Umfang der N. bald einschließt, bald davon ausschließt, erklärt sich die Verschiedenheit, mit welcher man die Gegensätze zwischen N. u. Geist, N. u. Geschichte, N. u. Kunst, N. u. Freiheit, N. u. Cultur etc. anwendet[711] u. bestimmt. So spricht man z.B. von dem Naturzustande eines Volkes im Gegensatze zu den Einwirkungen des gewerblichen, politischen u. wissenschaftlichen Lebens; vom Naturell eines Menschen im Gegensatze zu den Einwirkungen der Erziehung u. Sitte, obwohl diese Einwirkungen in beiden Fällen selbst wieder nach natürlichen Gesetzen sich richten; vom Naturrecht im Gegensatze zu positiven Gesetzen, obwohl die letzteren ebenfalls ihre natürlichen Gründe haben; von einer Natürlichen Religion im Gegensatze zur geoffenbarten, obwohl der Glaube an die letztere doch auch wieder als ein natürliches Factum aufgefaßt werden muß; ebenso von der Unnatur gewisser (wenn auch noch so natürlich entstandener) Gewohnheiten, Trachten u. Gebräuche im Gegensatze zu unverkünstelten Neigungen, Bedürfnissen u. Umgangsformen. Für den Menschen erstreckt sich der Umfang dessen, was sich ihm als Natur darstellt, nicht weiter als der Umfang seiner Erfahrung reicht; u. wenn sich ihm auch die Existenz des Weltgebäudes durch den Glanz der Gestirne verräth, u. er die Bewegungen derselben zu bestimmen gelernt hat, so ist doch das, was die Natur für ihn ist, weitaus zum größten Theil auf das beschränkt, was er auf seinem Wohnplatz, der Erde, sieht u. erfährt. Die irdische N. ist der Grund u. Boden seines Daseyns, das Vorrathshaus für seine Bedürfnisse, der Schauplatz seiner Thätigkeit. Von den Bedingungen, welche sie der Gestaltung seines Lebens u. Wirkens darbietet od. versagt, hängt trotz der Herrschaft, welche er durch seine Thätigkeit zum Theil über sie gewinnen kann, sein Wohl u. Wehe, sein ganzes irdisches Schicksal in letzter Instanz ab. Daher findet er sich in einem unauflöslichen Verhältniß zu der ihn umgebenden N., wie verschiedenartig sich dasselbe auch bei fortschreitender Cultur gestaltet. Zuerst tritt dem Menschen die N. als wohlthätige od. schädliche Macht gegenüber, u. in dieser hülflosen Anerkennung der Naturgewalten haben die Naturreligionen, die religiöse Verehrung eben dieser Naturgewalten, ihren Grund. Aber auch, wo die religiöse Verehrung einzelner Naturmächte höheren entweder pantheistischen od. theistischen Auffassungen gewichen ist, bleibt der unermeßliche Reichthum u. Wechsel, die Erhabenheit u. die Anmuth der Naturformen u. Naturerscheinungen immer noch die Quelle höchst mannigfaltiger Gefühle u. Stimmungen, u. indem der Mensch diese in die N. selbst hineinverlegt, nennt er die N. bald schrecklich u. furchtbar, bald heiter, bald düster, bald gütig u. lieblich, bald freundlich, bald grausam. Neben diesem empfindungsvollen Verkehr mit der N., für dessen ästhetischen Gehalt empfänglich zu bleiben auch auf den höchsten Culturstufen das Merkmal des Natursinns ist, macht sich den Bedürfnissen des Menschen gegenüber die Benutzung u. Ausbeutung der N. nothwendig, u. von den einfachsten Anfängen der Jagd, des Hirtenlebens u. des Ackerbaues bis hinauf zu der verfeinertsten u. künstlichsten Verarbeitung mühsam gewonnener Naturproducte zieht sich eine lange Kette zusammenhängender u. verwickelter Thätigkeiten, welche die N. in den Dienst menschlicher Bedürfnisse u. Zwecke nehmen. Darin liegt die ursprüngliche u. allgemeine Veranlassung der Sorge um Naturkenntniß, die zuerst der einfachen Beobachtung der Regelmäßigkeit der Naturerscheinungen das dem Menschen Nützliche abzugewinnen, dann aber für die beobachtete Regelmäßigkeit die Naturgesetze nachzuweisen u. diesen gemäß die Naturkräfte u. den Zusammenhang der Naturerscheinungen im Ganzen u. Großen kennen zu lernen sucht. So löst sich allmälig von den Rücksichten des Bedürfnisses u. Nutzens das unabhängige Interesse der Naturforschung los u. die Naturkenntniß sucht sich zur Naturwissenschaft (s.d.) u. Naturphilosophie (s.d.) auszubilden. Vgl. A. von Humboldt, Kosmos, Entwurf einer physischen Weltbeschreibung, Stuttg. 1845 ff., 5 Bde.