Natur

[246] Natur. Im weitesten Sinne begreift man unter diesem mehrdeutigen Ausdrucke die Gesammtheit Dessen, was ist, also das Weltall oder Universum in körperlicher wie in geistiger Beziehung. Man gebraucht aber Natur auch gleichbedeutend mit Schöpfung oder für die ganze Sinnen- oder Körperwelt und die in ihr und durch dieselbe wirksamen Naturkräfte und setzt ihr dann die ideale oder Geisteswelt entgegen. Der Charakter oder das Gepräge der Natur im erstern Sinne ist Abhängigkeit, strenge Gesetzmäßigkeit, das Gebundensein an die bewußtlos wirkende Naturkraft; der Geisteswelt dagegen ist bewußte Freiheit und Selbständigkeit eigen. Man nennt daher in Beziehung zum Menschen Natur und auch im Gegensatze zur Kunst Dasjenige natürlich, was nicht nach Regeln mit Bewußtsein künstlich erlernt oder ausgeübt wurde, sondern der bewußtlose Ausdruck menschlicher Anlagen ist. Die Ausübung einer Kunst oder Wissenschaft ohne vorhergegangenes Studium ihrer Regeln wird daher Naturalismus, und wer auf diese Art darin wirkt, Naturalist geheißen, womit zugleich ein Vorwurf wegen mangelnder gründlicher Ausbildung oder sogenannter Schule verbunden ist, ohne die mit den vorzüglichsten Anlagen Vollkommenes nicht geleistet werden kann. In besonderer Beziehung zur Poesie nennt man dergleichen Naturalisten auch Na turdichter, in der Geschichte der ital. Malerei werden aber vorzugsweise die Schüler des Michel Angelo da Caravaggio (s. Malerei) Naturalisten genannt, weil sie sich blos der Nachahmung der Natur und nicht ihrer veredelten Darstellung befleißigten. Auch in der Theologie hat Naturalismus eine besondere Bedeutung, indem man darunter die Ansicht versteht, daß der Mensch auch blos durch Anwendung und natürliche Entwickelung seiner Geisteskräfte und ohne göttliche Offenbarung zur vollkommenen Erkenntniß der Wahrheit und zur Glückseligkeit gelangen könne. Natürliche Religion wird daher die aus der moralischen Natur des Menschen unter Entwickelung der Vernunft hervorgehende religiöse Gesinnung und Überzeugung genannt, deren Gegensatz der Supernaturalismus oder der Glaube an eine übernatürliche, von den Gesetzen der Natur abweichende, unmittelbare Offenbarung (s.d.) Gottes bildet. Ebenso bedeutet das Wort natürlich immer, was durch die dem Menschen im Allgemeinen eigne Fähigkeit mit einer gewissen Nothwendigkeit bestimmt, also durch vernünftiges Nachdenken leicht erkennbar ist, wenn von dem natürlichen Rechte und der natürlichen Moral die Rede ist.

In beschränkter Bedeutung werden unter Natur auch die wesentlichen oder charakteristischen Eigenschaften aller Art von irgend etwas Vorhandenem verstanden, und man spricht z.B. im Allgemeinen von der Natur des Pflanzenreichs, des Thierreichs, des Mineralreichs, allein auch insbesondere von der Natur eines einzelnen Gewächses, eines bestimmten Thieres oder Steines, von der Natur des Feuers und des Wassers wie von der einzelner Gewässer. Ebenso ist die Rede von der allgemeinen Natur des Menschen oder menschlichen Natur und insbesondere von der Natur des Einzelnen oder der eigenthümlichen Körperbeschaffenheit oder Constitution einer Person, und in diesem Sinne gibt es schwächliche, kräftige, ausdauernde, zarte Naturen. Man sagt ferner, die Natur habe sich geholfen oder sei unterlegen, wenn im erstern Falle die Ursachen der gestörten Gesundheit des Körpers durch die auf Wiederherstellung desselben hinwirkenden, ihm eignen Kräfte entfernt wurden, oder wenn sie im andern dies nicht vermochten und daher die Auflösung des Körpers eintrat. Nicht mit Natur im letztern Sinne zu verwechseln ist der Ausdruck Naturell, d.h. Dasjenige an einem Menschen und überhaupt lebenden Wesen, was ihm von Natur eigen, ihm angeboren und durch kunstlose Entwickelung daraus hervorgegangen, in seiner Leibesbeschaffenheit und dem theilweise wieder auf dieser beruhenden Temperamente (s.d.) begründet ist und beim Menschen auch »natürliche Sinnesart« genannt wird.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 3. Leipzig 1839., S. 246.
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