Das physiokratische System

[434] Das physiokratische System (auch das ökonomistische genannt), ein System der Staatswirthschaft, vorzüglich der Erhebung der Abgaben (zum Theil auch der Politik), welches sich in Frankreich zu den Zeiten Ludwigs XV. unter den Französischen Philosophen bildete, nachdem die Mängel des Französischen Taxenwesens durch einige frühere wohlgemeinte aber fruchtlose Vorschläge zur Verbesserung in die Augen fallender geworden waren. Dieses System ist in mehreren Rücksichten merkwürdig: 1) durch die Ideen, die es enthält; 2) durch die Art, wie die Anhänger derselben, die so genannten Physiokraten oder Oekonomisten, ihr System ankündigen, und die seltsame Sprache, die sie reden; 3) durch den Einfluß, den dasselbe unstreitig auf die Französische Revolution gehabt hat.

Es würde für den Zweck dieses Buchs viel zu weitläuftig sein, einen ausführlichen Auszug dieses Systems zu geben. Wer von demselben eine ausführlichere Nachricht wünscht, lese das Büchelchen de lʼorigine et des progrès dʼune nouvelle science (S. 17 – 77); einen kurzen aber bündigen Auszug desselben hat Herr von [434] Dohm im Deutschen Museum (October 1778) gegeben. Die Hauptidee des physiokratischen Systems ist indeß folgende. Es wird zuförderst festgesetzt, daß eine einzige Abgabe denen mannigfaltigen, welche die Unterthanen fast aller polizirten Staaten entrichten müssen, vorzuziehen sei. Eine Idee, bei welcher die Physiokraten viele Vorgänger hatten, die jedoch noch mehrere Gegenstände dieser einzigen Abgabe bestehen ließen. Dagegen lassen die Physiokraten nur einen einzigen Gegenstand der Abgaben Statt finden – und dieser einzige Gegenstand ist der so genannte reine Ertrag(le produit net)des Landbauers, das ist, dasjenige Einkommen, welches ihm übrig bleibt, wenn derselbe die Auslagen, welche a) zur Urbarmachung des Bodens, b) zur Anschaffung der Früchte der Aussaat, des Viehes, der landwirthschaftlichen Werkzeuge, c) zur jährlichen Unterhaltung des Landmanns, seiner Familie, seines Gesindes, Viehes, landwirthschaftlichen Werkzeugs etc. nöthig sind, vorher weggenommen hat.

Schon der Reitz der Einfachheit, welcher alle Menschen anzieht, mußte diesem Systeme eine Menge Anhänger in und außer Frankreich verschaffen, wenn es derselben auch nicht aus andern Gründen gewiß gewesen wäre. Indeß haben mehrere scharfsinnige Männer nach unparteiischer und kalter Prüfung das physiokratische System für durchaus unausführbar gefunden; unter diesen hat vorzüglich der hellsehende Büsch (vom Geldumlauf, 2. Theil, gegen das Ende) mit einer eignen Gründlichkeit darüber geurtheilt. Ich will hier nur in möglichster Kürze drei Bemerkungen aus demselben entlehnen. 1) Es ist ungerecht, bei einem Volke, bei welchem alles in demselben Statt habende Geldauskommen als eine Quelle der Abgaben betrachtet wird, eine einzige Classe dieses Volks mit den Abgaben zu belasten; ungerecht, nur einen einzigen Gegenstand der Abgaben vorzuschlagen, und aus den mannigfaltigen Erwerbungsmitteln, welche einen Geldgewinn geben, nur ein einziges anzurathen. 2) Ist diese einzige Abgabe auf reinen Gewinn des Landmanns durchaus unsicher, und würde folglich Verwirrung in das ganze Finanzwesen bringen, indem a) nicht nur der [435] Werth (folglich auch der mögliche Ertrag) der Veränderung ausgesetzt ist, sondern b) auch der Staat bei dieser Einrichtung nicht selten und oft in den pressantesten Zeiten im Stiche gelassen wird (man denke sich Mißwachs, Krieg u. s. f.). 3) Würde sich der Bauer so unter allen seinen Mitbürgern als den einzigen Lastträger des Staats ansehen müssen, und hierdurch die Lust und mit dieser zugleich die Kraft verlieren, mehr Fleiß auf die Cultur seiner Grundstücke zu wenden, als zu seinen dringenden Bedürfnissen nöthig ist; und so käme der Staat wieder zu kurz dabei.

Ich gehe zur zweiten der oben angeführten Merkwürdigkeiten des physiokratischen Systems über, zu dem Tone, in welchem die Anhänger desselben reden. Wiewohl dieses System, wo nicht aus Engländern geschöpft, doch, der Hauptsache nach, von Locke und Decker vorgetragen worden (s. Youngs politische Arithmetik), so kündigten die Physiokraten dasselbe doch unter den pomphaftesten Anpreisungen als eine ganz neue Wissenschaft (science nouvelle) an. Hiermit nicht zufrieden, wählten sie für ihr System lauter neue, ungewöhnliche, oft sehr schwer zu entziffernde Wörter, wie selbst der Titel ihres Systems, Physiokratie, eine Art von Commentar erfordert. Meiner Meinung nach ist eine neue Terminologie oft für die Aufnahme einer Wissenschaft sehr entscheidend. Hat man wohl bei der Kantischen Terminologie, welche die der Physiokraten an Dunkelheit schwerlich übertreffen möchte, je gefragt, ob nicht eben diese neue Sprache der genannten Philosophie durch den Reitz der Neuheit eben so viel Anhänger verschafft habe, als man annehmen kann, daß sie derselben entzogen? Zweitens sondert eine neue Terminologie ein neues oder neu sein sollendes System einer Wissenschaft von den übrigen Systemen derselben so gänzlich ab, daß man bei dem Studium jenes leicht die übrigen alle zu vernachläßigen Gefahr läuft. In diesem Tone und mit dieser Sprache priesen die Physiokraten ihr System der ganzen Welt an. Sie schmeichelten sich mit der Hoffnung, es in Catharinens II. Landen eingeführt zu sehen; und Mirabeau wollte dasselbe in Preußen eingerichtet wissen. Indeß ist nirgends ein Versuch damit gemacht worden, [436] außer (vermittelst Herrn Schlettweins, eines der eifrigsten Physiokraten unter den Deutschen, übrigens aber eines sehr schätzbaren Gelehrten) in einer beträchtlichen Dorfschaft im Badenschen (dessen Fürst sich die Benennung eines wahren Landesvaters erworben hat); ein Versuch, der jedoch dem Landmann zu hart gefallen sein soll, wiewohl dieses, wegen der Kleinheit des Versuchs, noch keinen Beweis wider das System selbst abgiebt.

Was endlich den Einfluß des physiokratischen Systems auf die Französische Revolution betrifft, so will ich damit nicht sagen, daß dasselbe die Ursache jener merkwürdigen Epoche sei; dieses zu behaupten, würde, nach dem was wir von der Französischen Revolution wissen, lächerlich sein: aber dieses scheint mir keinem Widerspruch unterworfen zu sein, daß die Schriften der Physiokraten eine von den vielen Triebfedern (denn wer wird wohl die große Weltbegebenheit, von welcher wir reden, aus einer einzigen Ursache herleiten wollen?) gewesen seien, welche das große Rad der Französischen Staatsumwälzung in Bewegung gesetzt haben. Denn durch diese Schriften, denen ihre Verfasser durch darein verwebte Ideen von Freiheit, Gleichheit, allgemeiner Glückseligkeit u. s. f. doppelten Eingang zu verschaffen wußten, wurde, wie Spittler sehr richtig bemerkt, dem Französischen Volke der Contrast der alten durch vielfache zufällige Verhältnisse festgeformten Staatsadministration mit jenen reitzenden Ideen völlig einleuchtend, und eben dadurch der Wunsch nach Veränderung nur noch lebhafter.

Quelle:
Brockhaus Conversations-Lexikon Bd. 3. Amsterdam 1809, S. 434-437.
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