Réfugiés

[107] Réfugiés (Flüchtlinge) heißen die reformirten Franzosen, welche, durch die Verfolgungen ihres Königs, Ludwigs XIV. bedrängt, besonders aber durch den Widerruf des Edicts von Nantes ihrer bürgerlichen Existenz und persönlichen Sicherheit verlustig, in andern Europäischen Staaten eine Freistätte gegen Intoleranz suchten und fanden. Da die frühern Schicksale des Protestautismus in Frankreich, und die Aufhebung des Edicts, welches die religiöse und politische Freiheit seiner zahlreichen Bekenner sicherte, schon in den Artikeln Pariser Bluthochzeit, Th. I. S. 156. und Edict von [107] Nantes, Th. III. S. 211. f. abgehandelt worden, so beschäftigt uns hier bloß die Geschichte ihrer Flucht und threr Aufnahme im Auslande. Blinder Religionseifer, durch Eingebung tückischer Priester und engherziger oder verblendeter Rathgeber angefacht, hatten in Ludwigs XIV. Seele unauslöschlichen Haß und wilden Blutdurst gegen seine protestantischen Unterthanen entzünder, einen Haß, der besonders seit 1680 in die abscheulichste Verfolgungssucht aufloderte. Auf seinen Befehl zwängte man die Unglücklichen durch Zerstörung ihrer Kirchen, durch Plünderungen, Hinrichtungen und Martern aller Art in den Schooß der katholischen Kirche zurück; zahlreiche Heere von Dragonern metzelten sie schaarenweise nieder; und alle Reformirte, die mit ächter Gewissenhaftigkeit dem Glauben ihrer Väter anhingen, sahen sich genöthigt, ihr Heil jenseits der vaterländischen Gränzen zu suchen. Die Aufhebung des Edicts von Nantes, welche den 22. October 1685 erfolgte, raubte ihnen mit dem letzten Schatten von religiöser Freiheit jeden Schutz der Regierung; ihre Flucht wurde durch zahllose Gränzwachen erschwert und als Rebellion geahndet. Kerker, Blutgerüste, Galeeren, Verbannung nach Amerika bestraften den entdeckten Versuch einer Flucht, waren die Werkzuge und Schreckmittel, wodurch man die unglücklichen Schlachtopfer des Fanatismus in ihrem grausamen Vaterlande einzuzäunen suchte. Nichts desto weniger fanden ungeheure Schaaren derselben (man rechnet ihre Zahl über 700 000), größten Theils Männer, mit Zurücklassung ihrer Güter – selbst ihrer Weiber und Kinder, entweder durch unglaubliche List und Kühnheit, oder durch Bestechungen, oder durch Gewalt und verzweifelte Selbstvertheidigung einen Weg in das mildere Ausland. Frankreich verlor durch diese Auswanderungen die aufgeklärtesten Gelehrten, die thätigsten Kaufleute, die betriebsamsten Handwerker, die sinnreichsten Künstler, die fleißigsten Landbauer. Ein unersetzlicher Verlust, desto empfindlicher und dauernder, je mehr die Länder, welche den Flüchtlingen einen Zufluchtsort gewährten, durch sie an Cultur, an Industrie, an innerer Stärke gawannen. Denn der Französische Kunstfleiß theilte sich bald fremden Nationen mit, belebte und erhöhte ihre Fabriken und ihren Handel; Verfeinerungskunst, Ersindsamkeit, Gewerbgeist, Pflanzen, welche bisher nur unter Frankreichs Himmel zu gedeihen [108] schienen, schlugen bald in dem fremden Boden Wurzel, sproßten mächtig empor, und erhoben die neuen Pstanzstärten, auf Kosten des Französischen Staats, zu einem bis dahin unerreichten Flore. – England, Holland, Dänemark und die Schweiz empfingen die Flüchtlinge mit der rühmlichsten Bereitwilligkeit, und überhäuften sie mit wohlthätigen Unterstützungen. Mehrere Deutsche Staaten, theils solche, wo die reformirte Confession schon Kraft des Westphälischen Friedens völlige Bürgerrechte genoß, wie Hessen, Hanau u. a. theils auch solche, in denen das Lutherthum privilegirt war, wie Braunschweig-Lüneburg, Sachsen, nahmen die Fremdlinge auf, und erkauften durch den Schutz, die Duldung, oder die Freiheiten, die sie ihnen zugestanden, einen mehr oder weniger beträchtlichen Zuwachs an Reichthum und innerm Wohlstande. In Chur-Sachsen waren Dresden (seit 1686) und Leipzig (seit 1710) die einzigen Orte, wo sie öffentlichen Gottesdienst und vollkommene Duldung, aber doch kein Bürgerrecht erhielten; ein politischer Fehler, der wohl in dem unauslöschbaren Andenken an die Unruhen des Cryptocalvinismus seinen Grund hatte. Mehr als alle Regenten Deutschlands that der große Churfürst von Brandenburg für seine Französische Glaubensgenossen. Schon im Jahr 1685 den 29. October berief er sie durch ein Edict in seine Staaten, versprach ihnen da den vollkommensten Schutz, alle mögliche Unterstützung und völlige Freiheit der Gottesverehrung nach dem Genfer Ritual; er räumte ihnen mehrere Städte, z. B. Königsberg, Stendal, Brandenburg, Halle, Magdeburg, Frankfurt, zu Anlegung neuer Colonien, zu Betreibung neuer Handelszweige, Errichtung von Manufacturen und Fabriken ein, gab ihnen das Bürgerrecht, so wie es Deutsche Reformirte schon in seinen Staaten genossen, und ansehnliche Freiheiten, und verachtete mit edlem Stolz die Einsprüche und Drohungen des Französischen Despoten. Die Nachfolger dieses großen Regenten gingen auf der von ihm vorgezeichneten Vahn fort, nahmen die reformiten Franzosen in noch mehrere Städte mit Ertheilung aller bürgerlichen Rechte auf, welche ihre Deutschen protestantischen Unterthanen genossen, gaben ihnen Schulanstalten, ein besonderes Consistorium zu Berlin, und eigne, sowohl höhere als niedere, Gerichte. Sie sind daher in den Preußischen Staaten zahlreicher, als irgend wo; und Preußen perdankt ihnen die Gründung, [109] Ausbildung und Vervollkommnung seiner Industrie und Handlung. Inzwischen ist nicht zu läugnen, daß die Mischung jener Französischen Colonien unter unsere Nation dem Deutschen Charakter viel von seiner Originalität und Biederkeit abgeschliffen, und ihm Modesucht, Galanterie, Spottsucht, Oberflächlichkeit und besonders Gallomanie eingeimpft hat; einen Fehler, den die auffallende Ueberlegenheit jener Ankömmlinge in Rücksicht auf Geschmack, Kunstsinn, Eleganz zur Zeit ihrer Ansiedelung rechtfertigen konnte. Man denke nur an einen Bayle, den Vater der Aufklärung, des kühnen Zweifelgeistes, der liberalen Denkungsart in den Wissenschaften; – man vergleiche einen Beansobre und Lenfant mit den Deutschen Theologen damahliger Zeit.

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Brockhaus Conversations-Lexikon Bd. 4. Amsterdam 1809, S. 107-110.
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