Venedig

[454] Venedig. Nach einer alten Sage stammen die Veneter von den Heneten ab, welche nach dem trojanischen Kriege aus Kleinasien kamen (904 vor Chr.). Sie sind eine der ältesten und berühmtesten Nationen in Italien, und besaßen ein weitläufiges, fruchtbares Gebiet im Norden und Westen des adriatischen Meeres. Bei dem Eindringen des Attila auch nach Italien (in der Mitte des 5. Jahrh.) flüchteten die Bewohner der Ebenen am Fuße der Norischen Alpen in einen Winkel des adriatischen Meerbusens, auf einige wüste Klippen und Inseln, wo schon 421 sich die Paduaner niedergelassen hatten, und legten hier den Grund zu der Stadt Venedig. Mehrere Flüchtlinge kamen hinzu: dadurch und durch die Kriege der Franken und Gothen wurde diese Colonie immer mehr bevölkert. Ihre Hülfsquelle war hauptsächlich das Meer, zugleich aber auch eine Schutzmauer gegen ihre Feinde und so auch ein Mittel zur Macht und zum Reichthum. Sie hatten [454] sehr vielen Antheil an dem Handel, der von Alexandrien aus nach den Häfen des Occidents geführt wurde; ja endlich durch die Auswanderung einer großen Menge von Einwohnern Roms, welche nach den Verheerungen Italiens keinen Unterhalt mehr hier fanden, nahm diese Republik immer noch mehr zu, so daß sie endlich zu Anfange des 11. Jahrhunderts bei Gelegenheit der Kreuzzüge anfing, Eroberungen in Dalmatien zu machen; bald erlangte sie Candia und mehrere Inseln im Archipelagus; dann erweiterte sie ihr Gebiet nach der Lombardie zu, und im Jahre 1486 bekam sie das Königreich Cypern. Mit ihrer Macht hielt auch das Wachsthum ihres Handels gleichen Schritt: sie benutzte ihren Einfluß in Constantinopel zur Vergrößerung ihres Handels mit Judien. Die Waaren, wie Seide, Perlen, Musselin etc., welche über das caspische in das schwarze Meer und von da nach Constantinopel transportirt wurden, wußten die Venetianer sehr gut zu gebrauchen und Europa mußte von ihnen vorzüglich die orientalischen Waaren nehmen. Sie führten dabei eine Art von Tauschhandel; so daß sie z. B. nach Alexandrien und in die syrischen Häfen Bauholz, Eisen, Kupfer, Spiegel, Geschmeide, Glaswaaren etc. brachten und dagegen Gewürze aller Art, Edelsteine, Perlen, Baumwolle, Seide etc. mitnahmen. Kurz, sie gaben ihrem Seehandel nach und nach eine Ausdehnung, von der man vorher kein Beispiel gehabt hatte, und die Geschichtschreiber des 14. und 15. Jahrhunderts sprechen von dem Reichthum und der Macht der Venetianer mit Bewunderung und Erstaunen. Sie besiegten die Saracenen, die Griechen, ihre Nachbarn, die Genueser und Pisaner zu verschiedenen Malen und Venedig hatte in diesen blühenden Zeiten 300 Kriegsschiffe mit 80,000 Matrosen, nicht minder 145 Galeeren mit 12,000 Seesoldaten; eine ungeheure Handelsmarine, die an 3000 Kauffarteischiffe und Fahrzeuge von 30 bis zu 200 Tonnen Last enthielten und 18,000 Matrosen beschäftigte.

Zum Beweise von Venedigs Macht dient das Ereigniß, welches zu der bekannten Cerimonie: die Vermählung des Doge mit dem Meere die Veranlassung gab: Als Papst Alexander III., vom [455] Kaiser Friedrich I. (Rothbarth) verfolgt, sich 1177 nach Venedig flüchtete, sendete der Kaiser seinen Sohn Otto mit einer Flotte von 75 Galeeren gegen die Venetianer. Der Doge Sebastian Ziani ging dem Prinzen mit 30 Galeeren entgegen, griff ihn an den Küsten von Istrien an, schlug ihn gänzlich und brachte ihn selbst gefangen nach Venedig. Zur Dankbarkeit gab der Papst dem Doge seinen Ring: »Bedient Euch dessen,« sprach er, »als einer Kette, um die Fluten dem venetianischen Reiche unterwürfig zu machen; vermählt Euch durch diesen Ring mit dem Meere, und von nun an werde jährlich an demselben Tage diese Vermählung von Euch und Euren Nachfolgern wiederholt.«

Nur erst, als die Portugiesen den neuen Weg nach Indien über das Vorgebirge der guten Hoffnung entdeckten (1497), verminderten sich die Quellen von Venedigs Handelsflor und seiner Macht. Durch anhaltende Kriege mit Genua, noch mehr aber durch das Bündniß der vornehmsten europäischen Mächte zu Cambray wider diese Republik, sehr geschwächt, fing sie an zu sinken. Die Türken nahmen 1571 die Insel Cypern und 1669 die Insel Candia: zwar erhielt sie durch den Carlowitzer Frieden (1699) Morea, das sie aber durch den Tractat von Passarowitz (1718) wieder herausgeben mußte. Längst schon gab es die schüchterne Politik dieser Republik nach Außen, so wie der inquisitorische Druck im Innern, deutlich zu erkennen, daß dieser Staat sich selbst überlebt habe. Einen Beweis von der traurigen Beschaffenheit ihrer Marine gab sie auch im Jahr 1786, wo sie nicht einmal dem kleinen Raubstaate von Tunis Furcht einzujagen vermochte, sondern sogar vor ganz Europa die Demüthigung erfuhr, daß sie jenen Seeräubern einen jährlichen Tribut bewilligen mußte.

Noch beim Ausbruch der französischen Revolution zählte sie zwar 3 Millionen Einwohner; aber sie hatte kein Gewicht mehr in der Wagschaale Europas. Bonaparteʼs Siege, welche er zum Theil auf venetianischem Gebiete erfocht (vergl. d. Art. Näpoleon i. d. Nachtr. Thl. II. S. 100.) brachten Gährungen in ihrem Innern hervor: die aristokratische Verfassung [456] sollte der demokratischen weichen, bis darauf durch den Frieden von Campo Formido (17. Oct. 1797) Oestreich der östliche Theil als Ersatz für den Verlust der Niederlande und der Lombardei zufiel; der westliche Theil wurde mit Clsalpinien vereinigt: die levantischen Inseln, Corfu, Cephalonia etc behielt Frankreich (s. d. Art. Sieben Inseln-Republik). Im Jahr 1803 (März) wurde jener östreichisch-venetianische Staat in 7 Provinzen getheilt, auch ein General-Gubernium in Venedig errichtet, in jeder Hauptstadt ein königlicher Capitain zu Leitung der Staatsverwaltung angestellt etc. Allein im Jahr 1805 mußte Oestreich durch den Frieden zu Preßburg (26. Dec.) dem Theile der Republik Venedig entsagen, welcher ihm durch jene Tractaten zu Campo Formido und Lüneville zugefallen war, und es wurde darauf am 11 Nov. 1806 mit dem Königreiche Italien vereinigt.

Was nun die Stadt Venedig, einst die Hauptstadt dieser so gefürchteten Republik, und eine der ersten See- und Handelsstädte in Europa, jetzt zum adriatischen Departement des Königreichs Italien gehörig, betrifft, so gewährt sie allerdings den ankommenden Fremden, sowol zu Wasser als auf dem Lande, einen herrlichen Anblick, da sie auf den einzeln zerstreut liegenden Inseln – es sind deren auf 60 – erbaut ist, und mit ihren prächtigen Gebäuden und Thürmen gleichsam auf dem Meere zu schwimmen scheint. Durch den großen Canal (Canalazzo), welcher durch die Stadt geht, wird sie in zwei große Theile getheilt. Außerdem giebt es noch eine Menge anderer breiter und schmaler Canäle, in welche man auf kleinen Fahrzeugen oder Gondeln, deren es wohl an 5000 giebt, fährt; doch hängen die Straßen und Inseln durch 450 Brücken zusammen, wodurch der Verkehr außerordentlich befördert wird. In der Mitte dieser vielen Inseln liegt die Insel Rialto – der Mittelpunkt von ganz Venedig. Hieher flüchteten sich bei dem Einfall der Vistgothen in Italien zuerst die Familien: die zu dieser Insel gehörige so berühmte Brücke (Ponte di Rialto), welche von Palladio gebaut worden, besteht aus einem einzigen über den Canal gehenden Bogen, ist von Marmor, 43 Fuß lang, wird aber durch [457] die darauf stehenden häßlichen Buden sehr verunstaltet. Einer der berühmtesten Plätze ist der Marcus-Platz – der allgemeine Versammlungsplatz der Vornehmsten sowohl, als des niedrigsten Pöbels zu allen Zeiten des Tages. Es gewährt dieser Platz den herrlichsten Anblick: er ist mit einem Portico umgeben, wo Caffeehäuser und Cassinos sind, in welchen sich geschlossene Gesellschaften beiderlei Geschlechts versammeln. Das Gedränge aber ist hier so groß, daß man kaum seine Besonnenheit behalten kann. Eben so gehört die Marcuskirche zu den prächtigsten Gebäuden. Sie ist das schönste Denkmal der Baukunst aus dem 10. Jahrhundert. So ist auch der Palast von St. Marcus der schönste gothische Palast in Europa: vor demselben die berüchtigten steinernen Löwen mit offenen Rachen, durch welche vordem die Staatsspione ihre Angaben mittheilten. Auch die öffentliche Bibliothek von St. Marcus mit Antiquitäten-, Münz- und andern Sammlungen ist vorzüglich bemerkenswerth. Noch gehört zu den vorzüglichen merkwürdigen Gebäuden das Zeughaus mit vielen Gebäuden, Schiffsdocken und Werften, Magazinen, Tau- und Segeltuchfabriken, Stückgießereien etc. Zu den öffentlichen Anstalten gehören außer den Bibliotheken, dem griechischen Gymnasium etc. noch das Conservatorium di Pietà, worin mehrere hundert Mädchen außer andern weiblichen Arbeiten auch Wachsblumenverfertigung, besonders auch Musik u. dergl. erlernen; das Findelhaus, wo auf 4000 Knaben und Mädchen einträgliche Beschäftigung finden. – Die Künste und Manufacturen werden nicht mit gar großer Thätigkeit hier betrieben, und daher ist auch der Zwischenhandel hier sehr stark. Berühmt ist das venetianische Tafelglas, ferner die unächten Perlen und Corallen. Noch sind Gold-und Juwelierarbeiter (ihre Anzahl wird auf 470 angegeben), Seidenweber, dann die Wachsbleichen, Zuckersiedereien, Porzellainfabriken etc. bemerkenswerth. – Uebrigens fällt der ungeheure Gestank, der gleichsam ein Attribut dieses Ortes zu sein scheint, jedem Fremden außerordentlich auf: die Ursache hiervon ist der Schlamm, der sich in den Lagunen ansetzt und den man zwar mit großen Kosten, aber doch vergebens hinwegzubringen [458] sich bemüht. Ein Umstand, woraus man den gänzlichen Ruin der Stadt binnen einigen hundert Jahren ahnden will. Den Umfang der Stadt, wo auch der Sitz eines Apellationstribunals, eines Generaladministrators der Finanzen etc. ist, rechnet man 1½ Meile, die Bewohner gegen 158,000, darunter 4000 Juden. Dadurch, daß sie in der neuesten Zeit von Napoleon sehr begünstiget, und ihr Hafen für einen Freihafen erklärt worden, könnte sie allerdings wieder sehr emporkommen und der Hauptstapelplatz alles levantinischen Handels werden. – Die Hauptlustbarkeiten der Venetianer sind Schauspiele (es giebt 7 Theater hier), Redouten und die Vergnügungen des Marcusplatzes, Maskeraden, Uebungen der Taschenspieler, Seiltänzer etc. – alles Vergnügungen, wodurch ehedem die Regierung, die hier mit eisernem Zepter regierte, das Volk zu zerstreuen suchte. Die Staatsinquisition, die hier fürchterlich, aber freilich zu Erhaltung der aristokratischen Macht unentbehrlich war, hatte einen starken Einfluß auf den Charakter der Venetianer, der dadurch zurückhaltend gemacht wurde, und sie an öffentlichen Orten ganz verstummen machte, obgleich sie in Privatgesellschaften äußerst munter und aufgeweckt sind. – Die venetianische Messe, welche am Himmelfahrtstage anfängt und 14 Tage hindurch dauert, war ehedem durch die Cerimonie der Vermählung des Doge mit dem adriatischen Meere eine merkwürdige Zeit für Venedig. Es versammelten sich dazwischen 40 bis 50,000 Fremde, um dieser Cerimonie beizuwohnen, die allerdings durch die Fahrt von vielen tausend Gondeln, welche das Hauptschiff, den Bucentaur, begleiteten, ein herrliches Schauspiel darstellte (S. d. Art. Doge).

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Brockhaus Conversations-Lexikon Bd. 8. Leipzig 1811, S. 454-459.
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