Declamation

[96] Declamation ein eben so viel gebrauchtes als gemißbrauchtes Wort. Wer declamirte nicht? Und doch ist Declamation nichts als Gesang. Freilich kann auch Jedermann singen; aber wie? Declamation hat so gut Gesetze des Vortrags als Gesang, nur sind sie verborgener, geheimnißvoller, beruhen mehr auf dem Gefühle als dem Verstande und lassen sich nicht durch Noten bezeichnen. Sie ist vorzugsweise der angemessene Ausdruck im Vortrage den Dichtung, die Uebertragung fremder Empfindung in die eigene, und sonach ein Theil jener Kunstfertigkeit, die das Wesen des Mimen ausmacht. Verständniß der Dichtung, Wärme des Gemüthes, Schwung, Biegsamkeit des Organs, Ruhe und Geschmack sind ihr unerläßlichen Bedingungen. Man muß den Dichter, dessen Product man vortragen will, geistig kennen, verstehen; sich in die Situationen genau versetzen können, mit ganzer Hingebung des Herzens, selbst mit Aufopferung eigener Ueberzeugung; sich mit der Dichtung erheben und senken, dieß durch alle Scalen des Organs ausdrücken, dabei die Ruhe und Besonnenheit nicht verlieren, und das Ganze mit dem Nimbus jener Schönheit und Gefälligkeit überziehen, den man Geschmack nennt. Dieser aber muß angeboren sein, er läßt sich wohl vervollkommnen, aber eben so wenig erlernen als Grazie und Naivetät. – Die Frauen leisten hierin darum viel Erfreuliches, weil sie überhaupt mehr Geschmack als die Männer besitzen.

B–l.

Quelle:
Damen Conversations Lexikon, Band 3. [o.O.] 1835, S. 96.
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