[270] Herrnhuter oder Brüdergemeinde nennt sich jene Religionsgesellschaft, welche ihre Stiftung dem Grafen Nik. Ludwig von Zinzendorf verdankt. Im Jahre 1722 flüchteten sich nämlich mehrere aus Böhmen und Mähren vertriebene Glieder der böhmischen Brüderunität in die Oberlausitz, bauten sich bei dem dem Grafen gehörenden Dorfe Berthelsdorf am Hutberge an, und erhielten daher den Namen Herrnhuter. Da die Glieder dieser Colonie aus verschiedenen Gemeinden stammten, so entwarf der Graf Zinzendorf ein nach dem Muster der ersten apostolischen Gemeinden gebildetes Statut, worin man die Unterscheidungslehren der verschiedenen, hier vereinten protestantischen Confessionen unberührt ließ, nur die Grundwahrheiten des Christenthums als Glaubensartikel annahm und eine nach den Satzungen der böhmischen Brüdergemeinde geregelte Verfassung und Kirchenzucht einführte. Diese Statuten wurden im Jahre 1727 von allen Einwohnern Herrnhuts unter dem Namen freiwilliges Einverständniß angenommen. Sie erklären sich zwar für Verwandte der augsburgischen Confession, aber ihre Glaubenslehre unterscheidet sich gar merklich von dem protestantischen Lehrbegriffe. Denn sie betrachten die Religion zumeist als Sache des Gefühls, beschäftigen sich gern mit[270] den Bildern, in welchen das Neue Testament die Lehre von der Erlösung durch Christum vorträgt, betrachten Jesum am liebsten als das Lamm, das der Welt Sünde trägt, und finden in dem demüthigen Gefühle der Sündhaftigkeit eine gewisse Seelenbefriedigung. Die Bibel ist ihnen Erkenntnißquelle der Offenbarung, diese Offenbarung aber setzt der Heiland in der Gemeinde immer fort. Die Lehre, daß Christus seine Kirche fortwährend regiere, dehnen sie bis auf die unbedeutendsten Lebensverhältnisse aus, weßhalb sie sich zu ihren Unternehmungen gewöhnlich durch das Loos bestimmen lassen und sich zu denselben mit dem Wahlspruche entschließen: »der Heiland will es.« Zwar sind bei diesen Grundsätzen, wo überall das Gefühl vorherrscht, Verirrungen unvermeidlich, aber dessenungeachtet darf man auch den Nutzen nicht verkennen, welchen eine Vereinigung zur Arbeitsamkeit, um dadurch den Hang zum Laster zu ersticken und so mäßige, zufriedene Menschen zu bilden, für das praktische Leben wohl haben kann. Alle Glieder der Unität sind nach Verschiedenheit des Alters, Geschlechtes und der Lebensverhältnisse in Chöre abgetheilt, welche Kinder-, Knaben-, Mädchen-, ledige Brüder-, ledige Schwestern-, Ehe-, Witwer-, Witwenchor heißen, sich durch Schnitt und Farbe der Kleidung unterscheiden, und deren jedem ein Chorhelfer oder eine Chorhelferin (Seelsorger) und ein Chordiener vorsteht. Sie haben eine sehr zweckmäßige Communalverfassung und strenge Disciplin. Die Unität unterhält ein eigenes Gymnasium (Pädagogium zu Barby) und eine Universität (Seminarium zu Niesky). Durch ein weit ausgebreitetes Missionswesen finden sich Colonien der evangelischen Brüdergemeinde in allen Theilen der Erde, welche mit der Mutter-Colonie in der genauesten Verbindung stehen.
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