Lectüre

[314] Lectüre ist für den Geist, was Diamantbrod für den Diamant, es schleift; was Eisenkleie für den Magnet, es nährt; was Mittheilung für das Gefühl, sie beruhigt. Was und wieviel Frauen aus dem unerschöpflichen Schatze menschlichen Wissens zu nehmen haben, wäre schwerer zu sagen, wenn nicht die moralische Nothwendigkeit, daß sich das Weib für den Mann bilde, hier den Maßstab gäbe. Der Frauen Bildung muß eine durchaus weibliche bleiben, im edelsten Sinne des Wortes, wenn sie beglücken soll; nicht das Wissen macht glücklich, sondern die Anwendung desselben. Am Kelche der Blumen und Blüthen saugen die Biene und die Spinne; durch jene wird das Eingesogene Honig, durch diese Gift. Ehe die eigentlich systematische Lectüre beginnt, ist der Grundstein des geistigen Lebensgebäudes bei den Frauen, die diese Blätter lesen, wohl immer schon gelegt und die Erzieherin oder die sich selbst Erziehende hat hierin mehr auf Ausscheidung des Ueberflüssigen zu sehen, als auf Vermeidung des Schädlichen, das sie ohnedieß instinktmäßig von sich entfernen wird. Dem Reinen, heißt es, ist alles rein. Es ist auch so; aber man[314] vertraue der reizbaren Einbildungskraft nicht und hüte sich vor der Gewalt der Gewohnheit. Nur dieß im Allgemeinen. In besonderer Hinsicht auf weibliche Lectüre: so zerfällt diese natürlich in die der Mädchen und der Frauen, und wieder in wissenschaftliche und unterhaltende. Alle wissenschaftliche Lectüre, sowohl der Mädchen, als der Frauen, muß auf ihren Beruf stete Beziehung haben; so die Religions-, Sitten-, Staaten- und Kunstgeschichte: erste Bedingung alles Lesens bleibt Selbstkenntniß; bei Frauen tritt noch die heilige Pflicht hinzu, daß sie im Geschäfte ihrer Gatten nie ganz ignorant sein sollen. Von der Unterhaltungslectüre werden edle Frauengemüther gewiß Alles ausscheiden, was nur unterhält, was nicht zugleich entweder dem Geiste oder dem unverderbten Herzen Nahrung bietet: so sind hier historische Romane und Novellen und jene, durch L. Tieck in's Leben gerufenen, worin große Lebens-, Wissens- oder Kunstideen abgehandelt werden, den blos thatsächlichen Erzählungen vorzuziehen, so wie gute Gedichte den schlechten, deren Unterschied sich aber nur erlernt durch wissenschaftlichen Unterbau. Aesthetische Kenntnisse sind unerläßlich, will man nicht im Nebellande der Empfindung sich verwirren.

B –l.

Quelle:
Damen Conversations Lexikon, Band 6. [o.O.] 1836, S. 314-315.
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