[475] Ode, zur lyrischen Dichtkunst gehörend, ist eine nahe Anverwandte des Liedes, aber mit größern Ansprüchen groß gezogen als dieses. Früher ein harmloses Kind, den Tönen der Laute lauschend und deren Accorden Worte leihend, nahm sie nur die zarten Regungen des Gemüths in Anspruch; aber zur kräftigen Jungfrau emporwachsend, zog sie nach und nach alle Schattirungen des Lebens in ihren Zauberkreis, bis sie dann end (ich, das mächtige Organ der lyrischen Poesie, mit der Allgewalt der Begeisterung und der Tiefe des Herzens, gereist durch Erfahrung, aber nicht erkaltet durch ihre Lehren, ernst und bedeutend einherschreitet und ihren Empfindungen Worte gibt, überall da, wo die Erhebung des menschlichen Gemüths in das Gebiet höherer Ansichten und Gefühle streift. Als würdige Priester dieser Dichtart, alter und neuer Zeit, seien hier genannt: Anakreon, Pindar, Petrarca, Metastasio, J. B. Rousseau, Racine, Beranger, V. Hugo, Dryden, Pope, Miß Carter, Byron, Baggesen, Oehlenschläger, Opitz, Hagedorn, Uz, Klopstock, Voß, Kosegarten, von Platen etc. Mehr als bei einer andern Dichtungsart ist bei der Ode Freiheit in Sprache und Rhythmus erlaubt; sind auch die Abschnitte auf die mannigfaltigste Weise verschlungen, so soll doch ein gleichförmiger Strophenbau und ein bestimmtes Sylbenmaß vorherrschen; übrigens kann die Ode in gereimten oder reimfreien Versen gedichtet sein, bedingt aber jedenfalls kühne, überraschende Bilder und klangreiche Sätze. Sie gleicht ihrem Wesen nach der Hymne, gehört aber der Welt an, [475] während jene dem höchsten Wesen einzig und allein nur ihre Dienste widmet.
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