Affect

[15] Affect (affectus, passio, pathos) heißt ein erregter Gefühlsverlauf, Gefühlsausbruch, mit welchem bestimmte psychische und physiologische Veränderungen verknüpft sind, welche auf den Affect verstärkend zurückwirken. Im Altertum und Mittelalter werden die Affecte mit den Gefühlen und Trieben vermengt; der Affectbegriff bezeichnet hier »alle Gefühls- und Willenszustände, in denen der Mensch von der Außenwelt abhängig ist« (WINDELBAND, G. d. Ph. S. 129).

Zunächst gilt als Affect jede von außen in der Seele erregte mehr oder weniger starke Bewegung der Seele, des Vorstellungs- und Gefühlsverlaufes. So bei den Cyrenaïkern (s. Gefühl.) ARISTOTELES versteht unter pathê tês psychês alle Zustände (exeis) der Seele (De an. I, 1, 402 a 9), im engeren Sinne die Gemütsbewegungen, die teils von der Seele, teils vom Leibe ausgehen (sômatika ta pathê Eth. Nic. X, 2, 1173 b 9). Als Affecte werden aufgezählt: thymos, praotês, phobos, eleos, tharsos, chara, philein, misein, epithymia, orgê, phthonos, philia, pothos, xêlos (De an. I, l, 403 a 17 squ., Eth. Nicom. II, 4, 1105 b 21 squ., Polit. VIII, 6). Die Stoiker definieren den Affect (pathos) als anormale nicht naturgemäße, stürmische, vernunftlose Bewegung der Seele, sie betonen das Alogische des Affects: esti de auto to pathos kata Zênôna ê alogos kai para physin psychês kinêsis ê hormê pleonazousa (Diog. L. VII, 110). Pathos d' einai phasin hormên pleonaxousan kai apeithê tô hairounti logô ê kinêsin psychês para physin (Stob. Ecl. II, 6, 47). »Est igitur Zenonis haec definitio, ut perturbatio sit, quod pathos ille dicit, aversa a recta ratione contra naturam animi commotio« (CICERO, Tusc. disp. IV, 6, § 11). »Omnes perturbationes iudicio censent fieri et opinione« (l.c. 7, § 14). Der Affect enthält ein unlogisches Urteil. Die Grundaffecte sind: lypê (aegritudo), phobos (metus), epithymia (libido), hêdonê (laetitia) (Diog. L. VII, 110; Cic. Tusc. disp. IV, 6, § 11). Die Beherrschung, Unterdrückung der Affecte (Apathie, (s. d.)) ziemt dem Weisen, Tugendhaften, weil die Affecte gegen die Natur der vernünftigen Seele sind (Cic., Tusc. disp. III, 9, IV, 19; Senec. Ep. 116). Doch gibt es auch eupatheiai, nämlich chara, eulabeia, boulêsis (Diog. L. VII, 116). SENECA betont die freiheitshemmende Natur der Affecte (De ira II, 17, 7). Nach PLOTIN ist der Affect ein an bestimmte Vorstellungen der Seele sich anknüpfender Zustand des Leibes (Enn. III, 6, 3).[15]

Nach GREGOR VON NYSSA stammen die Affecte vom Leibe her, sie sind beim Menschen Krankheiten der Seele (De an. p. 47; vgl. SIEBECK, G. d. Ps. I, 2, 378). NEMESIUS nennt als Affecte Lust, Unlust, Furcht, Begierde (Peri physeôs 17), AUGUSTINUS: Begierde, Freude, Furcht, Trauer (Conf. VIII, 14), THOMAS: amor, concupiscentia, delectatio, dolor, tristitia (Sum. th. II, qu. 26 ff.). Affect heißt hier »affectio, affectus, concitatio animi, passio animae, perturbatio«; er ist eine Erregung des »appetitus sensibilis«, des sinnlichen Begehrens (1 perih. 2a; Sum. th. I. II, 24, 2c; 2 eth. 5b; De ver. qu. 26, 2). GOCLEN versteht unter Affecten »appetitus et aversationes« (Lex. phil. p. 80). »Passio« wird gebraucht für jede Form »potentiae appetitivae« (l.c. p. 802). Vgl. L. VIVES, De an. III, p. 146 ff.

Nach HOBBES bestehen die Affecte gleichfalls in Begehrungen und Verabscheuungen (»appetitu et fuga constant«, De corp. c. 25, 12), Bewegungen des Bluts liegen ihnen zugrunde. Passiones sind appetitus, cupido, amor, aversio, odium, dolor (Leviath. I, 6). Physiologisch erklärt die Affecte auch DESCARTES: »causam passionum animae non aliam quam agitationem, qua spiritus (Lebensgeister) movent glandulam, quae est in medio cerebri« (Pass. an. II, 51). Die primitiven, einfachen Affecte sind »admiratio, amor, odium, cupiditas, laetitia, moeror« (l.c. 69). SPINOZA erblickt (ähnlich wie die Stoiker) im Affect eine »confusa idea« (Eth. III, Schluß). Unter Affecten versteht er »corporis affectiones, quibus ipsius corporis agendi potentia augetur vel minuitur, iuvatur vel coërcetur, et simul harum affectionum ideas« (Eth. III, def. III). Affecte sind nur durch andere Affecte zu bekämpfen, zu beherrschen (Eth. V, so schon F. BACON). Die Grundaffecte, deren mannigfache Formen analysiert werden, sind laetitia, tristitia, cupiditas. MALEBRANCHE versteht unter Affecten »toutes les émotions que l'âme ressent naturellement à l'occasion des mouvements extraordinaires des esprits animaux et du sang« (Rech. II. Bd., C. 1). LEIBNIZ setzt die Affecte als »perturbations ou passions« in die »pensées confuses où il y a de l'involontaire et de l'inconnu« (Gerh. IV, 565). SHAFTESBURY bestimmt die selbstischen und socialen, Affecte (Mitleid, Mitfreude u. dgl.) als natürliche, denen die unnatürlichen Affecte (Bosheit, Schadenfreude) gegenüberstehen. Von diesen »sinnlichen« werden die »rationalen« (Reflexions-)Affecte (Gefühle des Schönen und Schlechten) (Charact. of Men) unterschieden.

Wieder als Erregungen des Begehrens erscheinen die Affecte bei CHR. WOLF. »Affectus Sund actus animae, quibus quid vehementer appetit vel aversatur, vel sunt actus vehementiores appetitus sensitivi et aversationes sensitivae« (Psych. emp. § 603 ff.). Ein Affect ist »ein merklicher Grad der sinnlichen Begierde und des sinnlichen Abscheues« (Vern. Ged. I, § 439). Ähnlich BILFINGER (diluc. met. § 294). BAUMGARTEN betont wieder den alogischen Ursprung des Affects (»ex confusa cognitione«, Met. § 678). CONDILLAC erblickt im Affect »un désir qui ne permet pas d'en avoir d'autres, ou qui du moins est le plus dominant« (Trait. d. sens. I, ch. 3, § 3).

Das Überraschende, Packende, Hemmende des Affects wird betont zunächst durch KANT. Nach ihm ist Affect »das Gefühl einer Lust oder Unlust im gegenwärtigen Standpunkte, welches im Subject die... Überlegung nicht aufkommen läßt«, »Überraschung durch Empfindung, wodurch die Fassung des Gemüts aufgehoben wird« (Anthr. § 71 f.), »diejenige Bewegung des Gemüts, welche es unvermögend macht, sich nach freier Überlegung durch Grundsätze zu bestimmen« (Krit. d. Urt. S. 130). Die Affecte sind von den Leidenschaften[16] (s. d.) zu unterscheiden (ib.). Je nachdem sie die Lebenskraft steigern oder mindern, sind sie »sthenische (wackere)« oder »asthenische (schmelzende)« Affecte (l.c. S. 130, Anthr. § 74). HERBART erklärt die Affecte aus dem Auftreten zu großer oder zu kleiner Vorstellungsmengen, die »beträchtlich von ihrem. Gleichgewicht entfernt« sind (Psych. a. W. § 106; vgl. VOLKMANN, Lehrb. d. Psych. II4, 390). Nach NAHLOWSKY ist der Affect »die durch einen überraschenden Eindruck bewirkte vorübergehende Verrückung des inneren Gleichgewichts, wodurch auch der Organismus in Mitleidenschaft gezogen und demgemäß die besonnene Überlegung und freie Selbstbestimmung entweder reduciert oder sogar momentan aufgehoben wird« (D. Gefühlsleb. S. 247). Zu unterscheiden sind »Affecte der activen oder Plus-Seite« und »Affecte der passiven oder Minus-Seite« (l.c. S. 258 f.). Nach BENEKE entsteht der Affect aus einer Ausgleichung plötzlich entstandener Überreizung (Lehrb. d. Psych. S. 181). SCHOPENHAUER definiert ihn als »eine durch unmittelbar dargebotene, anschauliche Motive hervorgerufene. so starke Bewegung des Willens, daß sie für die Zeit ihrer Dauer den Gebrauch der Erkenntniskräfte hindert und hemmt« (Neue Paral. S. 401). Nach JODL ist der Affect »das plötzliche Eintreten oder rapide Anschwellen eines auf Vorstellungen beruhenden Gefühls zu solcher Intensität, daß dadurch jeder anderweitige Bewußtseinsinhalt verdrängt wird« (Lehrb. d. Psych. S. 692). JERUSALEM bestimmt den Affect als einen »bestimmten Gefühlsverlauf, der sich von der ruhigen Gemütslage deutlich abhebt und einen intensiven Einfluß auf den Gesamtzustand des Bewußtseins ausübt« (Lehrb. d. Psych.3, S. 152). Es gibt Lust- und Unlustaffecte, erregende und deprimierende, spannende und lösende Affecte (ib.). Nach A. LEHMANN ist Affect der Seelenzustand, »in welchem starke Gefühle mit größerer oder geringerer Störung des normalen Vorstellungsverlaufes verbunden sind, und welche zugleich von verschiedenen Veränderungen des körperlichen Zustandes begleitet werden« (Gefühlsleb. S. 59). Jeder Affect ist zugleich Trieb und umgekehrt (l.c. S. 141). Die Verwandtschaft von Affect und Trieb betont auch KÜLPE (Gr. d. Psychol. S. 337); er sieht in beiden »Zustände, die eine Verschmelzung von Empfindungen und Gefühlen darstellen« (l.c. S. 331).

Diese Auffassung des Affects als eigenartigen Gefühlsverlaufs ist die von WUNDT begründete. Von einem Affect ist die Rede, wo sich »eine zeitliche Folge von Gefühlen zu einem zusammenhängenden Verlaufe verbindet, der sich gegenüber den vorangegangenen und den nachfolgenden Vorgängen als ein eigenartiges Ganzes aussondert, das im allgemeinen zugleich intensivere Wirkungen auf das Subject ausübt als ein einzelnes Gefühl« (Gr. d. Psych.5, S. 203). Der Affect ist ein psychisches »Gebilde« (s. d.). »Jedes intensivere Gefühl geht in einen Affect über« (l.c. S. 203), besonders das rhythmische (ib.). Jeder Affect beginnt mit einem »mehr oder minder intensiven Anfangsgefühl, das durch seine Qualität und Richtung sofort für die Beschaffenheit des Affects kennzeichnend ist, und das entweder in einer durch einen äußeren Eindruck hervorgerufenen Vorstellung (äußere Affecterregung), oder in einem durch Associations- und Apperceptiosbedingungen entstehenden psychischen Vorgang (innere Affecterregung) seine Quelle hat. Darauf folgt dann ein von entsprechenden Gefühlen begleiteter Vorstellungsverlauf, der wieder sowohl nach der Qualität der Gefühle wie nach der Geschwindigkeit des Vorgangs bei den einzelnen Affecten charakteristische Unterschiede zeigt. Endlich schließt der Affect mit einem Endgefühl, welches[17] nach dem Übergang jenes Verlaufes in eine ruhigere Gemütslage zurückbleibt, und in welchem der Affect abklingt, falls er nicht sofort in das Anfangsgefühl eines neuen Affectanfalles übergeht« (l.c. S. 204 f.). Durch die Summation und den Wechsel der aufeinander folgenden Gefühlsreize steigern sich auch die Wirkungen auf das Herz, die Blutgefäße und die Atmung sowie auf die äußeren Bewegungsorgane (pantomimische Bewegungen u.s.w. als Ausdrucksbewegungen, (s. d.)). Bei den relativ ruhigen Affecten: Verlängerung oder Verkürzung der Puls- und der Atmungswellen, bei den sthenischen Affecten verstärkte Innervation, verlangsamte und verstärkte Pulsschläge, bei den asthenischen Affecten Lähmung der Herzinnervation und des Tonus der äußeren Muskeln, starke Puls- und Atembeschleunigung, aber schwächere Bewegungen des Pulses und Atmens, bei den schnellen und langsamen Affecten größere oder geringere Schnelligkeit der Zunahme oder Hemmung der Innervation (l.c. S. 207 f.). Die physischen Begleiterscheinungen verstärken den Affect (l.c. S. 208; vgl. Phil. Stud. VI). Nach der Qualität der Gefühle gibt es Lust- und Unlustaffecte, excitierende und deprimierende, spannende und lösende Affecte; nach der Intensität sind schwache und starke Affecte zu unterscheiden, nach der Verlaufsform: plötzlich hereinbrechende, allmählich ansteigende, intermittierende Affecte (l.c. S. 213-216).

Diese physiologischen Begleiterscheinungen (Bewegungen, vasomotorische Störungen) machen zur Ursache des Affects JAMES (früher) (Psychol. II, C.25), C. LANGE (Üb. Gemütsbeweg. 1887), auch SERGI (Dolore e piacere 1894). Vgl. CH. FÉRÉ, Sensat. et mouvem. 1887, RIBOT, Psychol. des sentim.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Band 1. Berlin 1904, S. 15-18.
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