Atom

[98] Atom (atomon das Unteilbare) letztes Körperelement, vom Denken gesetzt, um die complicierten physikalisch-chemischen Vorgänge berechnen zu können, als Kraftpunkt, Kraftcentrum gedacht. Geistige, psychische Atome = Monaden (s. d.). Die Lehre von den Atomen = Atomistik, die Annahme, daß die Welt aus Atomen wahrhaft besteht = Atomismus.[98]

Von Atomen als Bestandteilen der Körperwelt ist schon bei KANÂDA (Vaiceshikam-System) die Rede. Im Abendlande wird die Atomistik durch (LEUKIPP und) DEMOKRIT begründet. Das Seiende muß als Vielheit gedacht werden, um die Erscheinungen zu begreifen, es muß in Atome zerfällt werden, aus deren Zusammensetzung die Eigenschaften der Körper abgeleitet werden können. Das Seiende ist plêres kai stereon, das Nichtseiende (der leere Raum) ist kenon kai manon (Aristot., Met. I, 4, 985b 4 squ.; Diog. L. IX, 12; Stob. Ecl. I, 306). Es gibt eine unbegrenzte Menge von Atomen (atoma, ideai, schêmata, Arist., Phys. III 4, 203 a 22; Diog. L. IX, 12); sie sind ewig (l.c. VIII 1, 252a 35), verschieden an Gestalt (schêma), Größe (megethos), Lage (thesis), alle aber dicht und hart (Arist., Met. I 4, 985b 17 squ.). Von der Größe der Atome ist ihre Schwere abhängig (Arist., De gen. et corr. I 8, 326a 10). Die Atome sind in ursprünglicher Bewegung begriffen (Arist., Phys. II 4, 196a 25) und leidensunfähig (apathes ... ou gar oion te paschein all' ê dia tou kenou, Arist., De gen. et corr. I 8, 326a 1, 325b 36). Ousias apeirous to plêthos atomous te kai adiaphorous eti d' apoious kai apatheis en tô kenô pheresthai diesparmenas (Plut., Adv. Col. 8). Durch den Zusammenprall der Atome bilden sich Wirbel (dinê), aus diesen unendliche Welten (apeirous kosmous Diog. L. IX, 12, 45; Sext. Emp. adv. Math. IX, 113), alles aber ohne Absicht, ohne metaphysische Notwendigkeit (»nulla cogente natura, sed concursu quodam fortuitu«, CICERO, De nat. deor. I, 66). Die Dinge sind Anhäufungen (synkrimata) von Atomen, entstehen durch die symplokê kai periplexei der Atome (Arist., De coel. III 4, 303 a 7). Die Atome sind das An-sich der Dinge, das, als was sie gedacht werden müssen, während die Sinneswahrnehmung nur subjectiv ist (Sext. Emp. adv. Math. VII, 13.5). Aus feinsten Atomen besteht die Seele (s. d.); auf Ablösung von Atomen von den Dingen beruht die Wahrnehmung (s. d.). EPIKUR erneuert die Atomistik. Die Körper bestehen aus unveränderlichen Atomen (atoma kai ametablêta Diog. L. X, 41), den Principien (archai) aller Dinge. Die Eigenschaften der Atome sind Größe, Gestalt, Schwere (baros,Plut., Epit. I, 3; Dox. Diels p. 285). Anfangs bewegten sich die Atome mit gleicher Schnelligkeit durch das Leere (kenon), ohne Hindernis (mêdenos antikoptontos, l.c. p. 61), in gerader Richtung (»ferri deorsum suo pondere ad lineam, hunc naturalem esse omnium corporum motum« Cicer., De fin. I, 6, De nat. deor. I, 25 ff.; Plut., Plac. I, 12). Um aber die Entstehung der Mannigfaltigkeit von Dingen zu erklären, nimmt Epikur an, die Atome hätten sich rein willkürlich, frei von ihrer Richtung ein wenig entfernt: »Declinare dixit atomum perpaulum, quo nihil posset fieri minus; ita effici complexiones et copulationes et adhaesiones atomorum inter se« (Cic., De fin. I, 18, De nat. deor. I, 69). »Corpora cum deorsum rectum per inane feruntur, ponderibus propriis incerto tempore ferme incertisque loci spatiis decellere paulum« (Lucr., De rer. nat. II, 217 ff.). Aus feinen Atomen bestehen die Seele (s. d.), die Götter, die in den Intermundien (s. d.) wohnen. Eine Ausführung der Atomistik gibt LUCREZ. Atome (principia, minima, semina) muß man annehmen, sonst bestände jeder Körper, der kleinste wie der größte, aus unendlichen Teilen, und es gäbe dann keinen Unterschied zwischen dem Kleinsten und Größten, beides wäre unendlich, »quod quoniam ratio reclamat vera negatque credere posse animum«, »victus fateare necessest esse ea quae nullis iam praedita partibus extent et minima constent natura... quae quoniam sunt, illa quoque esse tibi solida atque aeterna fatendum« (De rer. nat. I, 615 ff.). Ein Gegner der Atomistik ist CICERO[99] (De nat. deor. II, 37) und PLOTIN, nach dem alles Körperliche teilbar ist (Enn. II, 4, 8).

Die Atome (amerê sômata, adiaireta, onkoi, semina, LACTANTIUS) werden von Kirchenvätern öfter erwähnt, die Lehre von denselben wird bekämpft. ISIDORUS bemerkt: »Atomos philosophi vocant quasdam in mundo corpore partes tam minutissimas, ut nec visui pareant, nec tomên, id est sectionem, recipiant, unde atomoi dicti sunt... Atomus ergo est, quod dividi non potest, ut punctus« (Opp. ed. Migne III, 472 f.; LASSWITZ, G. d. At. I, 31 f.). JOH. SCOTUS ERIUGENA versteht unter Atomen die einfachsten Individuen (Div. nat. I, 26, 34). Die Mutaziliten nehmen die Existenz unausgedehnter (ohno »makan«) Atome an, die durch ihre Wirkungen den Raum ausfüllen, in diesem einen Ort (»hajjiz«) haben, punktuelle Einheiten sind, durch deren Verbindungen und Trennungen das Geschehen erfolgt; diese Atome sind von Gott geschaffen (vgl. LASSWITZ, G. d. At. I, 138 ff.). Atome nimmt auch WILHELM VON CONCHES an.

Der Atombegriff findet sich dann bei NICOLAUS CUSANUS: »Secundum mentis considerationem continuum dividitur in semper indivisibile et multitudo crescit in infinitum, sed actu dividendo ad partem actu indivisibilem devenitur, quam atomum appello« (De mente III, 9). Die physikalische Atomenlehre erneuert DANIEL SENNERT. Er spricht von »atomi, atoma corpuscula, minima naturae, sômata adiaireta, corpora individuata«. Vier Artell Elementaratome gibt es: »atomi igneae, aëreae, aquaeae, terreae« (Hypomn. III; LASSWITZ, G. d. At. I, 443). Eine Unendlichkeit unendlich kleiner (»non quanti«) Atome nimmt GALILEI an (Opp. III, p. 36 ff.). So auch G. BRUNO: »Ad corpora ergo respicienti omnium substantia minimum corpus est seu atomus, ad lineam vero atque planum minimum, quod est punctum« (De min. I, 2). GASSENDI betrachtet die Körperwelt als aus einer unbestimmt großen (aber nicht unendlichen) Zahl von Atomen zusammengesetzt, die von Gott bei der Schöpfung einen unverlierbaren Antrieb (»impetus«) zur Bewegung erhalten haben, der während der Ruhe nur gehemmt ist. Aus den feinsten (belebten) Atomen sind die Organismen zusammengesetzt (Synt. ph. Ep. II, set. 1, C. 4, 7). Zur Geltung bringt die Atomistik R. BOYLE, der als Grundeigenschaften der Atome Größe, Gestalt, Bewegung bestimmt (LASSWITZ, G. d. At. II, 268). DESCARTES, HOBBES, SPINOZA (»Atomus est pars materiae sua natura indivisibilis«, Ren. Cart. pr. II, def. III) nehmen statt der (punktuellen) Atome (ausgedehnte) Corpuskeln (s. d.) an. DESCARTES bemerkt hierbei: »Cognoscimus etiam fieri non posse, ut aliquae atomi... existant. Cum enim, si quae sint, necessario debeant esse extensae, quantumvis parvae fingantur, possumus adhuc unamquamque ex ipsis in duas aut plures minores cogitatione dividere ac proinde agnoscere esse divisibiles« (Princ. phil. II, 20). LEIBNIZ meint gleichfalls, alles Ausgedehnte als solches müsse sieh immer weiter zerlegen lassen, daher gibt es keine absoluten Atome, wohl aber einfache geistige Monaden (s. d.), die »wahren Atome« (Monad. 3). CHR. WOLF macht aus diesen (ausgenommen die Seelenmonade) wieder »atomi naturae«. »Atomus naturae dicitur, quod in se indivisibile est. Atomus materialis, quod in se divisibile, sed cui dividendo non sufficiunt aliquae causae in rerum natura existentes« (Cosm. §181). HOLBACH leitet alles Geschehen aus der Anziehung und Abstoßung der Atome in der Weise des Materialismus (s. d.) ab, während DIDEROT, BUFFON, ROBINET (De la nat. IV2, 21) den Atomen schon ein primitives Leben, Empfinden zuschreiben,[100] wie dies später NAEGELI, L. NOIRÉ, E. HAECKEL u. a. tun (s. Hylozoismus).

Neben der quantitativ-extensiven kommt nun eine dynamische Atomistik auf, welche in den Atomen unausgedehnte Kraftpunkte erblickt. Zugleich wird der Gedanke wach, daß die Atome als solche nur Producte unseres Denkens sind, Ansatzpunkte der Berechnung, nicht Dinge an sich, ferner auch bei vielen die Idee, daß die Atome überhaupt nur relativer, nicht absoluter Art sind, daß die Dinge sich in sie zerlegen lassen, daß aber von der Existenz ursprünglich isolierter Atome nicht die Rede sein kann.

Wissenschaftlich begründet BOSCOWICH, philosophisch KANT die dynamische Atomenlehre. Atom ist nach Kant »ein kleiner Teil der Materie, der physisch unmittelbar ist. Physisch unmittelbar ist eine Materie, deren Teile mit einer Kraft zusammenhängen, die durch keine in der Natur befindliche bewegende Kraft überwältigt werden kann« (Met. Anf. d. Naturw. WW. IV, 427). Die Atome bestehen aus abstoßenden Kräften, durch die sie erst einen Raum erfüllen (s. Materie); sie gehören der Sphäre der Erscheinung (s. d.) an. Schon in der »Monadologia physica« spricht Kant von Atomen, »monades physicae«. »Corpora constant partibus, quae a se invicem separatae perdurabilem habent existentiam« (l.c. sct. I, prop. II); jede »monas« hat eine »sphaera activitatis« (l.c. prop. VI). SCHELLING nennt die Atomistik »das einzig consequente System der Empirie«, das metaphysisch einer rein dynamischen Auffassung Platz machen muß (Ideen z. e. Ph. d. Nat.2, S. 297 f., s. Materie). Nach HERBART entsteht das materielle Atom durch das Gleichgewicht zwischen Attraction und Repulsion (Allg. Met.). K. ROSENKRANZ: »Die absolute Continuität des Äthers realisiert ihre absolute Discretion in dem Minimum einfacher materieller Existenz, im Atom.« Dieses ist eine Voraussetzung, es ist das Minimum der Auflösung des Äthers, keine unveränderliche Substanz, sondern ein Symbol, eine Fiction (Syst. d. Wiss. S. 200). J. H. FICHTE definiert die Atome als »einfache Unzerlegbarkeiten, aber qualitativer Art, welche ihren Raum setzen – erfüllen und durch ihre innere Affinität sowie durch die damit zwischen ihnen hervortretenden Wechselwirkungen das Phänomen relativ undurchdringlicher Körper erzeugen« (Anthr. S. 194). Nach ULRICI erscheint jedes Atom als »ein Punkt, in welchem mehrere Kräfte sich einigen, als ein Ort, von dem unterschiedliche Kraftäußerungen ausgehen, mithin als ein Centrum, das eine Peripherie von Wirkungen umgibt« (Leib u. Seele S. 37). Nach G. SPICKER ist das Atom nicht absolut isoliert. »Alle Atome bedingen sich gegenseitig, ihre Causalität und Wirksamkeit ist nur als eine gemeinschaftliche zu denken« (Vers. e. n. Gott. S. 112 ff.). E. v. HARTMANN betrachtet die Materie als aus »Atomkräften«, »Dynamiden« (so schon REDTENBACHER), unausgedehnten Kraftpunkten zusammengesetzt (Phil. d. Unb.3, S. 474; Gesch. d. Met. II, 506 f.); die Atome sind »Willensatome« mit primitivstem Bewußtsein (Ph. d. Unb.3, S. 498, 512), »objectiv reale Erscheinungen oder Manifestationen des All-Einen« (l.c. S. 491). R. HAMERLING erklärt: »Nicht das Atom, sondern nur seine Wirkungssphäre ist räumlich« (At. d. Will. I, 169). Das Continuum ist nur Sinnenschein wahrhaft bestehen »Seinspunkte«, »Leben- und Kraftpunkte« (l.c. I, 26), unausgedehnte, immaterielle Willenseinheiten mit primitivstem Bewußtsein (l.c. I, 26 f., 239, 170 ff.). Es gibt ein »Atomgefühl«. CZOLBE dagegen nimmt »begrenzte und nach allen Dimensionen ausgedehnte« Atome an, die sich ursprünglich anziehen und abstoßen (Gr. u. Urspr. d. m. Erk. S. 83). Rein dynamische »Atome« gibt es nach[101] FARADAY (Üb. d. Nat. d. Mat., Phil. Magaz. 1844, Bd. 24, S. 136), ZÖLLNER (Wiss. Abh. I, 127). WUNDT betrachtet die continuierliche Ausdehnung der Körper als Wirkung der bewegten Materie auf unser Anschauungsvermögen (Syst. d. Phil.2, S. 442 ff., 453 f.). Atome (relative) sind als Kraftcentren, als Ausgangspunkte von Bewegungen denkend zu postulieren (Log. II, 362, 374). RIEHL: »Der Atombegriff ist der Ausdruck des einfachen Denkactes der Setzung eines Wirklichen, auf Anlaß und entsprechend der einfachen Empfindung nach Abzug ihrer Qualität und ihres bestimmten Grades« (Phil. Krit. II, 1, 22). Es sind »nicht erst Elemente da, welche hinterher zu einem ihnen selbst äußerlichen, gleichgültigen Systeme zusammengeraten; vielmehr sind die Elemente durch ihre Grundeigenschaften zusammengehörig« (l.c. S. 276). Atome sind Abstractionsproducte, Gedankensymbole, nicht (am Ende gar beseelte) Dinge. »Die Atomistik ist eine Zeichensprache für Dinge, die für die Unterscheidung und Individualisierung der Erscheinungen Stützpunkte, für die Rechnung Ansatzpunkte liefert...« (Z. Einf. in d. Phil. S. 153). Nach LIPPS sind die Atome »nur Ausgangs- und Zielpunkte gesetzmäßig aneinander gebundener Arten des räumlichen Geschehens« (Gr. d. Log. S. 91). H. CORNELIUS warnt vor der Hypostasierung des Atombegriffes, betont aber auch den Wert desselben als »reines Bild für die Zusammenfassung der Erscheinungen« (Einl. in d. Phil. S. 328). So auch die Kantianer.

Nach SCHOPENHAUER sind die Atome »kein notwendiger Gedanke der Vernunft, sondern bloß eine Hypothese zur Erklärung der Verschiedenheit des specifischen Gewichts der Körper« (W. a. W. u. V. I, S. 495). FECHNER erblickt den Beweis der Realität der Atome allein »in der mathematischen Notwendigkeit, sie zu gebrauchen« (Üb. d. Seelenfr. S. 216 ff.; Phys. u. phil. Atom.2). Die Atome haben kein Für-sich-sein, sind nur als Bestandteile des allgemeinen, göttlichen Bewußtseins real. Nach L. BUSSE sind die Atome »nur praktisch brauchbare Fictionen, symbolische Bezeichnungen eines Seins und Geschehens« (Phil. u. Erk. I, 1, 245). RENOUVIER bemerkt: »L'atome semble... n'être qu' une conception proprement chimique« (Nouv. Mon. p. 11). O. LIEBMANN sieht in den Atomen punktuelle Kraftcentren, Dynamiden (Anal. d. Wirkl.2, S. 307, 311). Das Atom ist Grenzbegriff von provisorischem Charakter, eine »Rechenmarke der Theorie«, eine »Fiction« (l.c. S. 311 f.). SCHUPPE sieht in den Atomen nur Producte der »Zerfällung des mit Qualitäten erfüllten Raumes in kleinste Teile« (Log. S. 83). E. MACH erklärt, man dürfe in den von der Naturwissenschaft »selbstgeschaffenen veränderlichen ökonomischen Mitteln, den Molecülen und Atomen«, nicht »Realitäten hinter den Erscheinungen erblicken«. Das Atom ist ein Denkmittel, die Erscheinungen darzustellen (Populärw. Vorl. S. 223). Eine reservierte Haltung gegenüber der Atomistik nimmt (wie schon HELMHOLTZ, Vortr. u. Red. II, 47) P. VOLKMANN ein (Erk. Gr. der Naturwiss. S. 152 ff.). OSTWALD schaltet die Atomtheorie aus, ersetzt sie durch eine »energetische« Auffassung (s. d.). -»Wirbelatome«, die in und aus dem Fluidum des Stoffes entstehen, nehmen P. G. TAIT und THOMSON an. HAECKEL u. a. nehmen zweierlei Arten Atome an: Massen- und Äther-Atome. Vgl. Monade, Hylozoïsmuß, Materie, Homöomerien, Elemente.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Band 1. Berlin 1904, S. 98-102.
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