[442] Hypothese (hypothesis): Voraussetzung, Annahme, vorläufige Aufstellung eines Principes zur Erklärung von Tatsachen, aber auf Grund der Erfahrung und von Wahrscheinlichkeitsschlüssen, im Unterschiede von der bloßen Fiction (s. d.). Durch Verification kann die Hypothese in eine Theorie (s. d.) übergehen. Ohne Hypothesen kann die Forschung und kann das Erkennen überhaupt nicht auskommen, doch ist zu fordern, daß mit einem Minimum von Hypothesen gearbeitet werde (»principia praeter necessitatem non sunt multiplicanda«) und daß die Hypothesen gut fundiert seien.
Als Hypothesis wird zuerst der Satz bezeichnet, der an seinen Consequenzen geprüft werden soll, ein Verfahren, das schon ZENO VON ELEA befolgt. PLATO versteht unter Hypothesis die Festlegung eines allgemeinen Satzes als Voraussetzung und Begründung von anderen als dessen Folgen: hypothemenos hekastote logon, hon an krinô errhômenestaton einai, ha men an moi dokê toutô xymphônein, tithêmi hôs alêphê onta (Phaed. 100 A); hypothesin hypothemenos (1 c. 101 D); hypotheseis tas prôtas (l.c. 107 B); ex hypotheseôs (Rep. VI, 510 B; VII, 533 C). Der logische Zusammenhang von Voraussetzung und Folge macht eine Meinung erst zur Erkenntnis (vgl. Meno 98 A: aitias logismô vgl. GORGIAS 475 E, 482 C u. ff.). Die »Methode der hypothetischen Begriffserörterung« läuft darauf hinaus, »die Brauchbarkeit und Sicherheit eines im Denken gewonnenen Begriffs an der Richtigkeit der aus ihm abzuleitenden Folgerungen zu prüfen« (WINDELBAND, Plato S. 70). Nach ARISTOTELES ist Hypothesis eine Annahme, ein nicht evidenter Satz (Anal. post. I, 2; Anal. prior. I, 44, 50 a 16); ex hypotheseôs (Anal. prior. I, 10, 30 b 32; Met. IV, 2, l005 a 13). – M. PSELLUS definiert: hypothesis gar esti proslêpsis horou ousiôdous anti tinos (PRANTL, G. d. L. II,[442] 280). – Bei KEPLER bedeutet »hypothesis« die Voraussetzung, Grundlage einer Induction.
Vor dem Gebrauche willkürlicher, voreiliger Hypothesen warnt LOCKE (Ess. IV, ch. 12, § 12). Gute Hypothesen aber unterstützen das Gedächtnis und sind von heuristischem Werte (1. G. § 13). NEWTON gebraucht die Hypothese methodisch, ohne in willkürliche Hypothesenbildnerei verfallen zu wollen (»hypotheses non fingo«) Nach LAMBERT ist eine Hypothese »ein willkürlich angenommener Begriff von einer Sache, aus welchem man dieselbe erklären will« (N. Organ. § 567). Nach J. EBERT ist sie »ein angenommener möglicher Satz, dessen Wahrscheinlichkeit man aus der Übereinstimmung mit den bekannten Umständen zu zeigen sucht« (Vernunftl. S. 143). KANT definiert: »Eine Hypothese ist ein Fürwahrhalten des Urteils von der Wahrheit eines Grundes um der Zulänglichkeit der Folgen willen; oder kürzer: das Fürwahrhalten einer Voraussetzung als Grundes« (Log. S. 132). Hypothesen bleiben immer »Voraussetzungen, zu deren völliger Gewißheit wir nie gelangen können« (ib.) »Demohngeachtet kann die Wahrscheinlichkeit einer Hypothese doch wachsen und zu einem Analogon der Gewißheit sich erheben, wenn nämlich alle Folgen, die uns bis jetzt vorgekommen sind, aus dem vorausgesetzten Grunde sich erklären lassen« (ib.). Mathematik und Metaphysik erlauben keine Hypothesen, aber in der Naturlehre sind sie nützlich und unentbehrlich (l.c. S. 134). »Was ich auch nur als Hypothese annehme, davon muß ich wenigstens seinen Eigenschaften nach so viel kennen, daß ich nicht seinen Begriff, sondern nur sein Dasein erdichten darf« (WW. III, 545; vgl. Kr. d. Urt. § 90). FRIES versteht unter Hypothesen Voraussetzungen, welche hintennach durch hypothetische Inductionen bewiesen werden (Syst. d. Log. S. 29l, 434). Nach G. E. SCHULZE sind Hypothesen (»Wageerklärungen«) »Voraussetzungen einer noch unbekannten Ursache des nach der Erfahrung Vorhandenen oder einer noch nicht bekannten Art und Weise, wie gewisse Kräfte in der Natur etwas bewirken« (Allg. Log.3, S. 183). BACHMANN bestimmt: »Eine Hypothese ist eine Voraussetzung, welche man in der Absicht aufstellt, um daraus gewisse Facta, Erscheinungen natürlich erklären zu können« (Syst. d. Log. S. 344). Regeln der Hypothesenbildung: 1) »Es muß ein objectiver Grund vorhanden sein, wodurch die Annahme derselben notwendig und gerechtfertigt wird. Die Tatsachen müssen gewiß, aber der Grund verborgen sein.« 2) »Sie sei so einfach als möglich.« 3) »Sie muß nicht bloß in sich frei von Widersprüchen sein, sondern auch mit den übrigen bekannten Naturgesetzen und überhaupt mit allen anderen Wahrheiten zusammenstimmen.« 4) »Sie muß mit den Phänomenen, um derentwillen sie angenommen wurde, in Harmonie stehen, d.h. es müssen sich diese mit allen ihren Eigentümlichkeiten aus ihr leicht und ungezwungen erklären lassen.« (l.c. S. 345). SCHOPENHAUER erklärt: »Eine richtige Hypothese ist nichts weiter als der wahre und vollständige Ausdruck der vorliegenden Tatsache, welche der Urheber derselben in ihrem eigentlichen Wesen und innerem Zusammenhang intuitiv aufgefaßt hatte. Denn sie sagt uns nur, was hier eigentlich vorgeht« (W. a. W. u. V. II. Bd., C. 12). Gegner aller metaphysischen Hypothesen ist COMTE, welcher betont: »Les hypothèses vraiment philosophiques doivent constamment présenter le caractère de simples anticipations sur ce que l'expérience et le raisonnement auraient pu dévoiler immediatement, si les circonstances du problème eussent été plus favorables« (Cours de philos. posit. I, leç. 28). Den Wert der Hypothesen erörtert J. ST. MILL (Log. II, 17). Nach LOTZE sind Hypothesen[443] »Vermutungen, durch welche wir einen in der Wahrnehmung nicht gegebenen Tatbestand zu erraten suchen, von dem wir meinen, daß er in Wirklichkeit vorhanden sein müsse, damit das in der Wahrnehmung Gegebene möglich, d.h. aus den anerkannt höchsten Gesetzen des Zusammenhangs der Dinge begreiflich ist« (Gr. d. Log. S. S4). ÜBERWEG nennt Hypothese »die vorläufige Annahme einer ungewissen Prämisse, die auf eine dafür gehaltene Ursache geht, zum Zweck ihrer Prüfung an ihren Consequenzen« (Log.4, § 134). Nach v. KIRCHMANN ist eine Hypothese »ein versuchsweise aufgestelltes Gesetz, bei welchem es dann darauf ankommt, seine Wahrheit zu beweisen« (Kat. d. Philos. S. 67). W. JAMES nennt Hypothese »alles, was mit dem Anspruch, geglaubt zu werden, an uns herantritt« (Wille z. Glaub. S. 2). Die Entscheidung zwischen zwei Hypothesen ist eine Option (l.c. S. 3). Nach WUNDT sind Hypothesen Voraussetzungen, welche notwendig zur Erklärung der Tatsachen gemacht werden (Log. I, 404; vgl. II2, 1). P. VOLKMANN definiert: »Hypothesen sind Vorstellungen und Anschauungen, mit denen wir uns über die Ungenauigkeit unserer sinnlichen Anschauung erheben, es sind also übersinnliche Vorstellungen und Anschauungen« (Erk. Gr. d. Naturw. S. 61, vgl. S. 63). – E. MACH ist Anhänger einer »hypothesenfreien« Wissenschaft. So auch W. OSTWALD. Nach ihm ist es Aufgabe der Wissenschaft, »die in ihr auftretenden Mannigfaltigkeiten in solcher Weise darzustellen..., daß nur die tatsächlich in den darzustellenden Erscheinungen angetroffenen und nachgewiesenen Elemente in die Darstellung aufgenommen werden, alle anderen ungeprüften Elemente aber fernzuhalten. Dadurch sind alle sogenannten anschaulichen Hypothesen oder physikalischen Bilder ausgeschlossen« (Vorles. üb. Naturphilos.2, S. 213 f.). Erlaubt sind höchstens vorläufige Annahmen, »Protothesen«, ohne der Sache fremde Voraussetzungen (l.c. S. 399 f.). Dagegen bemerkt E. v. HARTMANN: »Die Hypotheseophobie ist eine ebensolche Kinderkrankheit der Physik, wie der Glaube an absolute Gewißheit ihrer Lehren« (Weltansch. d. modern. Physik S. 226). Nach H. CORNELIUS ist der Ursprung aller Hypothesenbildung »die Erkenntnis von Analogien zwischen verschiedenen Erscheinungsgebieten«. Solange die Hypothese nur zur Fixierung des rein tatsächlichen Ähnlichkeitsverhältnisses gebraucht wird, bleibt sie auf empirischem Boden. »Sie leistet aber damit zugleich alles, was für den Erklärungsmechanismus erfordert wird, indem sie eben den umfassenden Gesichtspunkt aufzeigt, unter welchem die neuen, zu erklärenden Erscheinungen sich mit bereits bekannten Tatsachen verknüpft zeigen« (Einl. in d. Philos. S. 42). »Dogmatische Annahme von Hypothesen ist eines der hartnäckigsten Hindernisse des Fortschritts wissenschaftlicher Erkenntnis« (l.c. S. 43). Vgl. Materie, Metaphysik.
Buchempfehlung
Jean Pauls - in der ihm eigenen Metaphorik verfasste - Poetologie widmet sich unter anderem seinen zwei Kernthemen, dem literarischen Humor und der Romantheorie. Der Autor betont den propädeutischen Charakter seines Textes, in dem er schreibt: »Wollte ich denn in der Vorschule etwas anderes sein als ein ästhetischer Vorschulmeister, welcher die Kunstjünger leidlich einübt und schulet für die eigentlichen Geschmacklehrer selber?«
418 Seiten, 19.80 Euro
Buchempfehlung
Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.
430 Seiten, 19.80 Euro