Gattung

[343] Gattung (Gattungsbegriff) ist ein Collectivbegriff, der eine Reihe untergeordneter (Art-) Begriffe umfaßt, deren gemeinsame Merkmale er zum Inhalte hat. Der Gattungsbegriff ist von Bedeutung bei der Einteilung (Classification) eines Wissensgebietes. In der Definition (s. d.) wird gewöhnlich die nächste Gattung (»genus proximum«) angegeben. Die höchsten (allgemeinsten) Gattungen sind die Kategorien (6. d.). Um die Realität der Gattung dreht sich der Universalienstreit (s. d.). Die Gattung ist kein Ding, sondern ist in der Reihe gleichartiger Dinge vertreten, es entspricht also dem Gattungsbegriff etwas an den Dingen, eine Gruppe von Merkmalen oder Kräften.

PLATO hypostasiert die Gattungen der Dinge zu »Ideen« (s. d.). ARISTOTELES sieht in der Gattung eine den Dingen immanente Wesenheit. Gattung (Geschlecht, genos) ist das Allgemeine, Wesentliche einer Gruppe ähnlicher Dinge, das ihnen zugrunde liegende gleiche Sein; z.B. heißt die Fläche die Gattung der ebenen Figuren (Met. V 28, 1024a 29 squ.; X 3, 1054b 30; X 8, 1057b 38). Die Gattung ist nur deutera ousia kein Einzelding (l.c. VIII 1, 1042 a 22). Zu unterscheiden sind genê prôta und genê eschata (l.c. III 4, 999 a 31). Die Stoiker sehen in der Gattung nur ein Collectivum: genos de esti pleionôn kai anaphairetôn ennoêmatôn syllêpsis, hoion zôon. touto gar perieilêphe ta kata meros zôa (Diog. L. VII 1, 60). Nach ALEXANDER VON APHRODISIAS ist die Gattung ein bloßer Name oder Begriff: to te genos hôs genos lambanomenon ou pragma ti estin hypokeimenon, alla monon onoma, kai en noeisthai to koinon einai echon ouk en hypostasei tini (Quaest. nat. II, 28). Als eine Collection übereinstimmender Dinge bestimmt die Gattung PORPHYR; sie ist to kata pleionôn kai diapherontôn eidei en eidei en ti esti katêgoroumenon (Isag. 2), oder hê tinôn echontôn tôs pros hen ti kai pros allêlous athroisis (l.c. 1a, 17 ff.). Nach BOËTHIUS: »Genus est quod praedicatur de pluribus specie differentibus in eo quod est, species vero est quam sub genere collocamus« (De div. p. 640). »Genus enim dicitur et aliquorum quadammodo se habentium ad unum aliquid et ad se invicem collectio« (Porph. Isag. p. 26).

JOHANNES SCOTUS ERIUGENA definiert: »Genus est multarum formarum substantialis unitas« (bei HAURÉAU I, 303). MARTIANUS CAPELLA: »Genus est multarum formarum per unum nomen complexio« (ib.). Die Scholastiker unterscheiden »genus naturale« (»quod est commune multis, quae conveniunt in materia«) und »genus logicam« (»quod habet unum modum praedicandi communem univocum de multis speciebus« (bei PRANTL, G. d. Log. III, 274). Nach HEIRICIUS von AUXERRE ist die Gattung »cogitatio collecta ex singularum similitudine specierum« (ÜBERWEG-HEINZE, Gr. d. Gesch. d. Philos. II, 142), nach REMIGIUS von AUXERRE »complexio, id est adlectio et comprehensio multarum formarum, i.e. specierum« (HAURÉAU I, 145). GILBERTUS PORRETANUS definiert: »Genus est subsistentiarum secundum totam earum proprietatem, ex rebus secundum species suas differentibus similitudine comparata collectio« (STÖCKL I, 276). Nach ABAELARD sind die Gattungen »sermones«. »Genus« ist »id quod natum est praedicari,« nur in den Individuen hat es Subsistenz (Dial. 204). WILHELM von OCCAM betont: »Genus non est aliqua res extra animam existens de essentia illorum, de quibus praedicatur,« sondern bloß »intentio animae praedicabilis de multis« (Log. I, 20).

Nach PETRUS RAMUS ist die Gattung »totum partibus essentiale« (Dial. inst. I, 27). Nach NICOLAUS CUSANUS existieren die Gattungen »contracte in speciebus« (Doct. ignor. III, 1). Die Logik von PORT-ROYAL erklärt: »Genus[343] idea dicitur, cum ita communis est, ut ad alias ideas etiam universales se extendat« (I, 6). Nach LOCKE ist die Gattung ein bloßer Collectivbegriff, die Zusammenfassung des Ähnlichen vieler Dinge unter einem Namen (Ess. III, Oh. 3, § 13). CHR. WOLF erklärt: »Genus est similitudo specierum« (Ontol. § 234; Phil. rat. § 234). PLATNER: »Diejenigen beständigen Merkmale oder sogenannten Eigenschaften eines allgemeinen Dinges oder Begriffs, welche zugleich auch zukommen den ihm entgegengesetzten einzelnen Dingen, nennt man... die Gattung« (Phil. Aphor. I, § 510). KANT bestimmt: »Der höhere Begriff heißt in Rücksicht seines niederen Gattung (genus), der niedere Begriff in Ansehung seines höheren Art« (Log. S. 150). Nach HEGEL existiert die (organische) Gattung »nicht an und für sich, sondern nur in einer Reihe von einzelnen Lebendigen«. Die Gattung ist erst im Geiste an und für sich in seiner Ewigkeit (Naturphil. S. 648 f.). Nach CARRIERE ist die Gattung nicht vor den Individuen selbständig da, aber auch kein bloßes Wort; sie ist die »wesengleiche Natur«, das »gleiche Bildungsgesetz« der Dinge (Ästh. I, 21 f.; vgl. DÜHRING, Log. S. 196 f.). Nach SCHUPPE ist das »Gattungsmäßige« (Allgemeine) mit dem Speciellen, Individuellen untrennbar verbunden, in ihm enthalten und mit wahrnehmbar (Log. S. 90 f.). Nach SCHUBERT-SOLDERN ist Gattung »das Merkmal, welches ein Datum oder viele von anderen bekannten unterscheidet« (Gr. e. Erk. S. 139). Vgl. Erkenntnis, Wahrheit, Apriori (SPENCER, NIETZSCHE u. a.).

Quelle:
Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Band 1. Berlin 1904, S. 343-344.
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