Geisteswissenschaften

[368] Geisteswissenschaften heißen jene Disciplinen, die zum Gegenstand geistige Processe, Gebilde und Gesetzmäßigkeiten haben, also Psychologie, Geschichte, Philologie, Sociologie, Ästhetik, Ethik, Philosophie überhaupt u.s.w. Bei HUME u. a. tritt die »Geisteswissenschaft« als »moral philosophy« auf. BENTHAM teilt die Wissenschaften in »Somatologie« und »Pneumatologie« ein (Oeuvres de J. Bentham 1829, III, p. 311). AMPÉRE unterscheidet »Kosmologie« und »Noologie« (Essai sur la philos. des sciences 1834). HEGEL spricht von »Geisteslehre« (Encykl. § 386). HILLEBRAND u. a. geben eine »Philosophie des Geistes«. J. ST. MILL rechnet zu den Geisteswissenschaften Psychologie, Ethologie, Sociologie. DILTHEY bezeichnet als Geisteswissenschaften »das Ganze der Wissenschaften, welche die geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit zu ihrem Gegenstande haben« (Einl. in d. Geisteswiss. I, 5). Nach WUNDT beginnen die Aufgaben der Geisteswissenschaften überall da, »wo der Mensch als wollendes und denkendes Subject ein wesentlicher Factor der Erscheinungen ist« (Log. II. 2, 18). Alle Geisteswissenschaften »haben zu ihrem Inhalt die unmittelbare Erfahrung, wie sie durch die Wechselwirkung der Objecte mit erkennenden und handelnden Subjecten bestimmt wird«. Sie »bedienen sich daher[368] nicht der Abstractionen und der hypothetischen Hilfsbegriffe der Naturwissenschaft, sondern die Vorstellungsobjecte und die sie begleitenden subjectiven Regungen gelten ihnen als unmittelbare Wirklichkeit, und sie suchen die einzelnen Bestandteile dieser Wirklichkeit aus ihrem wechselseitigen Zusammenhang zu erklären. Dies Verfahren der psychologischen Interpretation in den einzelnen Geisteswissenschaften muß demnach auch das Verfahren der Psychologie selbst sein« (Gr. d. Psychol.5, S. 3 f.). Grundlage der Geisteswissenschaften ist die Psychologie (s. d.).»Denn der Inhalt der Geisteswissenschaften besteht überall in den aus unmittelbaren menschlichen Erlebnissen hervorgehenden Handlungen und ihren Wirkungen« (l.c. S. 19). Das geistige Tatsachengebiet hat als Eigenart die Wertbestimmung, die Zwecksetzung und die Willensbetätigung – Momente, von denen die Naturwissenschaft (s. d.) abstrahiert. Die drei heuristischen Principien der Geisteswissenschaften sind: das »Princip der subjectiven Beurteilung«, das »Princip der Abhängigkeit von der geistigen Umgebung«, das »Princip der Naturbedingtheit der geistigen Vorgänge« (Log. II2 2, S. 47, 27 ff.). Den Unterschied zwischen Natur- und Geistes (- historischen -) Wissenschaften betonen WINDELBAND und H. RICKERT (Grenz. d. naturwiss. Begriffsbild. 1896), auch G. RÜMELIN. MÜNSTERBERG erkennt die Basierung der Geisteswissenschaften auf Psychologie (den »Psychologismus«) nicht an. Vgl. Gesetz, Naturwissenschaft, Psychologie.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Band 1. Berlin 1904, S. 368-369.
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