Induction

[508] Induction (epagôgê, inductio) heißt die Methode der Gewinnung allgemeiner Sätze durch (Inductions-) Schluß vom Besondern, Particulären aufs Generelle. Die Induction (»inductive« oder »analytische« Methode) dient zur Aufstellung von Gesetzen (s. d.) auf Grundlage der (exacten) Vergleichung einer Reihe von Fällen, mit Berücksichtigung der »negativen Instanzen« (s. d.), unter[508] Anwendung des »Ausschlußverfahrens« (s. d.) und ev. des Experiments, und mit Heraushebung des für eine Reihe von Erscheinungen Typischen, Regelmäßigen, Constanten. Voraussetzung jeder Induction ist die (durch Erfahrung erhärtete) Denkforderung, daß Gleiches (Identisches) sich unter gleichen Bedingungen gleich verhalte, d.h. daß die Dinge ihre Natur, ihre substantiale Wesenheit zu allen Zeiten und in allen Räumen bewahren, und damit auch ihre Wirkungsweise. Die Voraussetzung (Forderung) einer Gesetzmäßigkeit überhaupt liegt aller Induction zugrunde. Die Induction setzt sich zusammen aus vergleichender Beobachtung, Generalisation und Verification des Gefundenen. Da die Inductionen immer nur auf einer begrenzten Zahl von beobachteten Fällen beruhen, da ferner in die Beobachtung Fehler sieh einschleichen, Factoren eines Geschehens übersehen werden können u. dgl., so kommt ihnen nur Wahrscheinlichkeit, niemals absolute, apodiktische Gewißheit zu. – Es gibt eine »vollständige« und eine »unvollständige« Induction (»inductio completa, incompleta«, erstere besonders in der Mathematik), eine naive, vage (»inductio per enumerationem simplicem«) und eine kritische, die negativen Instanzen berücksichtigende Induction.

Als Fortgang vom Einzelnen, Concreten zum Allgemeinen, Begrifflichen übt das inductive Verfahren bewußt schon SOKRATES: Er sucht tous t' epaktikous kai to horizesthai katholou (Aristot., Met. XIII 4, 1078b 28); epi tên hypothesin epanêgen an panta ton logon... houtô de tôn logôn epanagomenôn kai tois antilegousin autois phaneron egigneto talêthes (Xenoph., Memor. IV, 6, 13 ff.; vgl. III, 3, 9). PLATO bedient sich desselben Verfahrens, mit Hinzunahme der hypothesis (s. d.). ARISTOTELES definiert die Induction (epagôgê) als hê apo tôn kath' hekaston epi ta katholou ephodos (Top. I 12, 105a 13). Der Inductionsschluß (s. d.) wird formuliert. Wissenschaftlich ist nur die vollständige Induction (epagôgê dia paniôn, Anal. pr. II 23, 68b 15). Den Wert der Induction kennen die Epikureer (vgl. GOMPERZ, Herculan. Stud.h. 1). Den Begriff der »induction« formuliert CICERO: »Sunt... similitudines, quae ex; pluribus collationibus perveniunt, quo volunt, hoc modo: Si tutor fidem praestare debet, si socius, si cui mandaris, si qui fiduciam acceperit, debet etiam procurator. Haec ex pluribus perveniens quo vult appellatur inductio, quae graece epagôgê nominatur, qua plurimum est usus in sermonibus Socrates« (De invent. I, 61). »Inductio est oratio, quae rebus non dubiis captat assensiones eius, quocum instituta est, quibus assensionibus facit, ut illi dubia quaedam res propter similitudinem earum rerum, quibus assensit, probetur« (l.c. I, 31, 51). Gegen die Berechtigung des inductiven Verfahrens treten die Skeptiker auf. Die Induction kann nicht alle Fälle berücksichtigen; berücksichtigt sie aber nur einige Fälle, so ist möglich, daß der Verallgemeinerung einige nicht berücksichtigte Fälle entgegentreten (SEXTUS EMPIRICUS, Pyrrh. hypot. II, 15).

Eine Definition der »inductio« gibt BOËTHIUS: »Inductio est oratio, per quam fit a particularibus ad universalia progressio« (De differ. topic. II, 418). Nach THOMAS (und den Scholastikern überhaupt) wird in der »inductio« geschlossen das »universale ex singularibus, quae sunt manifesta ad sensum« (1 anal. 1c). Unterschieden werden »inductio completa« und »incompleta« (1 anal. 1d). Nach W. von OCCAM ist die »inductio« eine »a singularibus ad universale progressio«, deren Regel lautet: »Si omnes singulae alicuius propositionis sint verae, universalis est vera« (PRANTL, G. d. L. III, 418 f.).[509]

Erst in der neueren Zeit kommt das eigentliche (nicht bloß begrifflich-) inductive Verfahren zur Geltung. Eine Theorie der naturwissenschaftlichen Induction gibt (der auf PLATO sich beziehende) F. BACON, welcher das syllogistische (s. d.) Verfahren bekämpft, zugleich aber die echte, wissenschaftliche von der vag-empirischen Induction unterscheidet und auf eine wohlgeordnete »Tafel der Instanzen« hohen Wert legt. »In logica... vulgari opera fere universa circa syllogismum consumitur. De inductione vero dialectici vix serio cogitasse videntur, levi mentione eam transmittentes et ad disputandi formulas properantes. At nos demonstrationem per syllogismum reicimus... Inductione per omnia et tam ad minores propositiones, quam ad maiores, utimur. Inductionem enim censemus eam esse demonstrandi formam, quae sensum tuetur et naturam premit et operibus imminet ac fere immiscetur« (Nov. Organ. distr. op. p. 4). »Secundum nos axiomata continenter et gradatim excitantur, ut nonnisi postremo loco ad generalissima veniatur... At in forma ipsa quoque inductionis et iudicio, quod per eam fit, opus longe maximum movemus. Ea enim, de qua dialectici loquuntur, quae procedit per enumerationem simplicem, puerile quiddam est et praecario concludit et pericula ab instantia contradictoria exponitur et consueta tantum intuetur; nec exitum reperit« (ib.). »Atqui opus est ad scientias inductionis forma tali, quae experientiam solvat et separet et per exclusiones ac reiectiones debitas necessario concludat« (ib.). »Spes est una in inductione vera« (l.c. I, 14). »Fiat instructio et coordinatio per tabulas inveniendi idoneas et bene dispositas« (l.c. 102). »De scientiis tum demum sperandum est, quando per scalam veram et per gradus cotinuos et non intermissos aut hiulcos a particularibus ascendetur ad axiomata minora et deinde ad media, alia aliis superiora, et postremo demum ad generalissima« (I. g. 104). »Inductio, quae ad inventionem et demonstrationem scientiarum et artium erit utilis, naturam separare debet per reiectiones et exclusiones debitas; ac deinde post negativas tot, quot sufficiunt, super affirmativas concludere; quod adhuc factum non est, nec tentatum certe, nisi tantummodo a Platone, qui ad excutiendas definitiones et ideas hac certe forma inductionis aliquatenus utitur« (l.c. 106).

Eine Definition der Induction gibt die Logik von Port-Royal: »Inductio fit, cum ex rerum particularium notitia deducimur in cognitionem vertatis genericae« (l.c. III, 19). HUME führt die Induction auf Gewohnheit zurück (Enquir. sct. IV, V). Nach REID fußt alle Induction auf dem Satze, daß gleiche Wirkungen gleiche Ursachen haben müssen (Inquir. II, sct. 24). Princip der Induction ist, »that, in the phenomena of nature, what is to be, will probably be like to what has been in similar circumstances«. Das ist ein Princip des »common sense« (s. d.) (Ess. on the Intell. Pow. of Man VI, ch. 4 f.). KANT schreibt dem durch Induction Gefundenen nur »comparative Allgemeinheit« zu (s. a priori, Erfahrung) (so auch O. LIEBMANN, Anal. d. Wirkl.2, S. 235 u. a.). Auf die Voraussetzung der Gesetzmäßigkeit der Natur gründet die Induction G. E. SCHULZE: »Haben wir... beobachtet, daß ein bejahendes oder verneinendes Merkmal vielen Einzeldingen einer Art zukomme, so sind wir in Rücksicht auf das vorausgesetzte gesetzmäßige Verfahren der Natur in der Verbindung gewisser Beschaffenheiten der wirklichen Dinge geneigt anzunehmen, dasselbe Merkmal werde auch in allen übrigen Einzeldingen der Art vorhanden sein, ob es gleich darin noch nicht wahrgenommen worden ist« (Gr. d. allg. Log.3, S. 180). BACHMANN betont: »Die allgemeine Gesetzmäßigkeit des idealen und[510] realen Seins ist... ein notwendiges Postulat unserer Vernunft, ohne welches unser wissenschaftliches Streben sich selbst vernichten würde« (Syst. d. Log. S. 326 ff.). Nach APELT ist die Induction formell ein disjunctiver Vernunftschluß. Sie gründet sich auf einen angeborenen Hang der Vernunft nach Einheit und Zusammenhang ihrer Erkenntnisse. Die Allgemeingültigkeit der inductionsmäßig gewonnenen Gesetze beruht auf apriorischen Principien (Theor. d. Induct. S. 17 ff.). Ähnlich WHEWELL, der die Induction auf »fundamental ideas« fundiert, welche das Denken in die Erfahrungen legt (Histor. of the Ind. Science 1840). Auf die Deduction führen die Induction zurück W. HAMILTON (Lect. on Log. I3, 319 f.), TRENDELENBURG (Log. Unters. II3, 363, 370 f.), LOTZE (Log.§ 101 f.). – J. ST. MILL erblickt in der Induction das methodische Fundament alles Wissens (Log. I, 169). Sie ist »diejenige Verstandesoperation, durch welche wir schließen, daß dasjenige, was für einen besonderen Fall (oder Fälle) wahr ist, auch in allen Fällen wahr sein wird, welche jenem in irgend einer nachweisbaren Beziehung ähnlich sind« (l.c. III, C. 2, §1). Jede Induction läßt sich in der Form eines Syllogismus darstellen, dessen Obersatz unterdrückt ist und selbst eine Induction ist (l.c. III, S. 364). Die Induction beruht auf der »natürlichen Neigung des Geistes, seine Erfahrungen zu generalisieren« (l.c. S. 367). Die Voraussetzung, »daß der Gang der Natur gleichförmig ist«, ist das Axiom der Induction, beruht selbst auf einer allgemeinsten Induction (l.c. S. 363 ff.). Nach JEVONS kommt den Inductionsurteilen nur Wahrscheinlichkeit zu, indem das inductive Denken nur ein Specialfall des Wahrscheinlichkeitsschlusses ist. Die »imperfect induction« »merely unfolds the information contained in past observation or events; it merely renders explicit what was implicit in previous experience. It transmutes knowledge, but certainly does not create knowledge« (Princ. of Science I, 168 f.); »in inductive just as in deductive reasoning, the conclusion never passes beyond the premisses« (l.c. I, 251). »Nature is to us like an infinite ballot-box, the content of which are being continually drawn, ball after ball, and exhibited to us. Science is but the careful observation of the succession in which balls of various character usually present themselves; we register the combinations, notice those which seem to be excluded from occurence, and from the proportional frequency of those which usually appear we infer the probable character of future drawing« (l.c. I, 169; vgl. I, 292 ff.). Dagegen erklärt G. HEYMANS: »Die Wahrscheinlichkeitstheorie ist ein für allemal außerstande, inductives Denken zu erklären, weil das nämliche Problem, welches dieses in sich birgt auch in der... empirischen Anwendung jener enthalten ist. Denn hier, genau so wie dort, geht die Schlußfolgerung über das in den Prämissen Gegebene hinaus« (Ges. u. Elem. d. wiss. Denk. S. 290 ff.). Die Voraussetzung von der Unveränderlichkeit des Bestehenden liegt aller Induction zugrunde (l.c. S. 402 f.). Nach B. ERDMANN setzt die Induction voraus, daß gleiche Ursachen gleiche Wirkungen hervorbringen, und daß gleiche Ursachen gegeben sind (Log. I, 580 ff.). Der Grundsatz der Induction ist ein »Postulat des Vorherwissens« (l.c. S. 586), das sich in der Erfahrung bewährt hat (l.c. S. 587; vgl. b;. 569 ff.). Nach E. v. HARTMANN hängt der Wert der Induction davon ab, »daß wir eindeutig determinierende causale Beziehungen zu constatieren vermögen« (Kategorienl. S. 298). Induction und Deduction reconstuieren reale Verhältnisse ideell, indem sie dieselben aus ihrer ideellen Implication reexplicieren (I. c. S. 307). Ihre eigenartige Bedeutung für das Erkennen liegt[511] »in dem leitenden Gesichtspunkt der Ausschließung des Widerspruchs« (l.c. S. 308). HAGEMANN betont: »Die Grundvoraussetzung für jede rationelle Induction ist die Gewißheit, daß in der Natur, dem eigentlichen Bereiche der Induction, Gesetzmäßigkeit herrscht, und daß dieselben Gründe dieselben Folgen bewirken« (Log. u. Noet.5, S. 103 f.). Nach SIGWART ist die Induction eine Umkehrung des Syllogismus (Log. II, 402 ff.). Nach WUNDT ist die elementare logische Form der Induction der »Verbindungsschluß« (Schluß der dritten Aristotel. Figur). Die inductive Methode sucht erstens »durch eine mannigfach wechselnde Benutzung der analytischen und synthetischen Methode die Deutungen der Tatsachen zu beschränken«. »Zweitens nimmt sie eine einzelne Deutung, die sich ihr als möglich darbietet, hypothetisch als wirklich an, um die daraus sich ergebenden Folgerungen zu entwickeln und an der Erfahrung zu prüfen.« »Als das Resultat einer Induction ergibt sich stets ein allgemeiner Satz, welcher die einzelnen Tatsachen der Erfahrung, die zu seiner Ableitung gedient haben, als specielle Fälle in sich enthält. Einen solchen Satz nennen wir ein Gesetz. Wie die Constanz der Objecte unserer Beobachtung die Bedingung ist für die Abstraction von Gattungsbegriffen, so ist die Regelmäßigkeit des Geschehens die Bedingung für die Induction von Gesetzen« (Log. II, 22). Nach dem Grade der Allgemeinheit sind drei Stufen der Induction zu unterscheiden: »1) Die Auffindung empirischer Gesetze, 2) die Verbindung einzelner empirischer Gesetze zu allgemeineren Erfahrungsgesetzen, und 3) die Ableitung von Causalgesetzen und die logische Begründung der Tatsachen« (l.c. S. 23). Die allgemeine logische Regel der physikalischen Induction lautet: »Unter den eine Erscheinung begleitenden Umständen sind diejenigen als wesentliche Bedingungen derselben anzusehen, deren Beseitigung die Erscheinung selber beseitigt, und deren quantitative Veränderung eine quantitative Veränderung der Erscheinung herbeiführt« (l.c. S. 301). Nach SCHUPPE ist die Induction formal ein »Syllogismus mit disjunctivem Obersatz«. »Vorausgesetzt ist dabei der Begriff der Causalität oder des Zusammengehörens, daß eine Erscheinung der notwendige Vorgänger oder Nachfolger oder Begleiter einer andern ist« (Log. S. 53). H. COHEN bestimmt die Induction im Sinne der Hinführung auf die allgemeinen Gesetze der Causalität und des Systems (Log. S. 322). Vgl.c. GOERING, Krit. I, 391; E. DÜHRING, Log. S. 88; VOLKMANN, Lehrb. d. Psychol. I4, 5; LIPPS, Gr. d. Seelenl. S. 452. Vgl. Methode, Axiom, Causalität, Gleichförmigkeit.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Band 1. Berlin 1904, S. 508-512.
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