[123] Dorfpoesie, höfische, hat zuerst Lachmann diejenige Richtung der höfischen Lyrik genannt, deren Verfasser zwar wie die Hörer dem höfischen Stand angehörten, deren Gehalt aber und teilweise auch deren Form aus dem Leben der Bauern schöpfte. Sie ging hervor aus einer begreiflichen Reaktion gegen die gebundene, konventionelle, nach Form, Inhalt, Gegenstand der Poesie überhaupt und zumal der Minne rein höfische Lyrik. Gegen sie taucht plötzlich im zweiten Jahrzehnt des 13. Jahrh. eine Lyrik auf, die mit vollem Bewusstsein und mit Entschiedenheit sich von dem Zwange der höfischen Formen lostrennt, die sich nicht mehr mit konventionellen, zarten Empfindungen und weichen Klagen begnügt, sondern mit Humor und Lebenslust sich dem Leben und der Liebe ergiebt. Ihren Ursprung und Hauptsitz hatte diese Richtung am Hofe zu Wien, wo der Erfinder der Gattung, Nithart von Riuwental, schon um 1217 thätig war. Am Hofe zu Wien sangen die Fürsten den Frauen den Reigen vor, und diesen samt den begleitenden Liedern, mit welchen das lebenslustige Volk den Beginn des Sommers und der geselligen Freuden des Winters begingen, ahmte Nithart nach, zum Verdruss der an den Sitten des höfischen Lebens festhaltenden Dichter, zumal Walters v.d.V. Es giebt zwei Arten dieser Lyrik: die Frühlingslieder, gesungen zur Begleitung des Reigens und im Freien, überwiegend episch gehalten, und die Winterlieder, zum Tanz in der Stube. Die meisten Lieder beiderlei Art sind Minnelieder. Nitharts Name war so beliebt, dass das 14. und 15. Jahrh. eine Unzahl von Liedern ihm untergeschoben und Abenteuer nach Art des Eulenspiegels angedichtet hat. Ausser Nithart haben folgende Dichter[123] an dieser Richtung der Lyrik teilgenommen: der Tannhäuser der von Stammheim, Leopold von Scharfenberg, Geltar, Konrad von Kirchberg, Steimmar aus dem Thurgau und der Zürcher Hadlaub. Lilienkron in Haupts Z. VI.; Schröder in Gosches Jahrb. I.
Goetzinger-1885: Höfische Dichtung