[326] Götterdämmerung. In der Kosmogonie des Nordens haben die Götter kein vorweltliches Dasein, sondern sie sind erst mit der Welt entstanden und zwar erst nach der Entstehung des Urriesen Ymir oder Aurgelmir, des Vaters der Reifriesen (Hrimthursen), der aus den Tropfen des giftigen Reifes geboren wurde, welcher aus der nördlichen Nebelwelt kommend durch Berührung mit den von der südlichen Flammenwelt Muspelheim ausströmenden warmen Lüften und Funken schmolz. Die Götter aber stammen aus dem durch die Kuh Audhumla aus dem Ureise hervorgelockten Urmenschen Buri. Kaum ist aber das Göttergeschlecht neben das Geschlecht der Reifriesen getreten, so kommt es zwischen beiden[326] zum Kampfe. Buris Enkel, Odin, Vili und We, erschlagen Ymir mit seinem ganzen Geschlechte, mit Ausnahme des Bergalmir, der auf einem Boote entkommt und von dem die Geschlechter der neuen Reifriesen stammen. Zwischen Göttern und Riesen herrschtunversöhnliche Feindschaft, die sich durch die ganze germanische Mythologie hinzieht und in der furchtbaren Katastrophe endigt, durch welche Riesen, Götter und Welt ihren Untergang finden. Dieser Götteruntergang heisst in der nordischen Sprache ragnarökr, Götterdunkelheit, Götterverfinsterung; die Hauptquelle für diesen Mythus ist das erste und älteste Lied der Edda, die Völuspâ.
Die Ursache zu dem allgemeinen Untergange ist das in die Götter- und Menschenwelt eindringende und um sich greifende Böse; dadurch dass das sittliche Wesen und Walten der Götter sich verfinstert, werden die von ihnen gebändigten, schon vor ihnen existierenden Naturmächte, die Riesen, wieder frei, und es gelingt ihnen mit Hilfe der von ihnen erzeugten Ungetüme ihr Vernichtungswerk auszuführen.
Nach Ymirs Ermordung gestalten die Götter aus seinem Leichnam sofort unsere Welt und beschränken das entflohene Riesengeschlecht durch Anweisung ihrer Wohnsitze längs der Seeküste, sie selbst aber nehmen ihre Wohnsitze im Mittelpunkte der Welt, richten sich daselbst ein, lassen von ihrer weltschöpferischen Thätigkeit ab und geniessen in harmloser Unschuld das goldene Zeitalter. Da nahen drei Jungfrauen aus dem Riesenlande, die übermächtigen Nornen, die als Göttinnen des unabwendbaren Schicksals ihnen zeigen, dass sie nicht die absoluten Beherrscher der Welt sind; mit ihrem Erscheinen findet das goldene Zeitalter der Götter ein Ende.
Sie beginnen jedoch aufs neue ihre weltschöpferische Thätigkeit, indem sie die Zwerge und Menschen schaffen, doch beschwören sie sich jetzt selbst ihr eigenes Verderben und dasjenige der durch sie geschaffenen Welt herauf. Auf selbstsüchtige Thatenlosigkeit und Genusssucht, in welche sie vorher versunken waren, folgt jetzt unersättliche Goldgier, welche nun auch die Menschen ergreift. Während die Götter aber noch beraten, ob sie das in der Menschenwelt ausgebrochene Böse bestrafen oder Sühnopfer dafür nehmen sollen, werden sie von den Wanengöttern mit Krieg überzogen. Zwar kommt zwischen Asen und Wanen ein Friede zustande, dem zufolge der Wanengott Niörder nebst seinen beiden Kindern Freyr und Freya zu den Asen kommen und so an der Herrschaft der Welt teilnehmen; aber dadurch, dass Odin in diesem Kriege seinen Todesspiess unter das Volk geschleudert hat, hat sich das Böse schon zum Menschenmord gesteigert, und es ist dem Verderben nicht mehr zu wehren, obgleich die Wanen vorzugsweise bemüht sind, ein Leben in Fülle und Frieden, Milde und Freundlichkeit zu stiften und somit unter den Menschen Glück und Frieden wieder herzustellen und dauernd zu begründen. Vergeblich gehen die Wanengötter teils gezwungene, teils freiwillige eheliche Verbindungen mit den Riesen ein; auch dass Odin beständig auf der Fahrt ist, Riesen zu vertilgen, bringt keinen Nutzen; denn der Feuerriese Loki, den die Götter in ihre Reiche aufgenommen haben, arbeitet im geheimen an ihrem Untergange, stürzt sie durch seinen satanischen Einfluss vollends in Sünde und Unglück und erzeugt mit dem Riesenweibe Angrboda die verderblichen Ungeheuer: den Fenrirwolf, die Midgardsschlange und die Hel, die in Riesenheim erzogen werden. Unaufhaltsam schreitet das Verderben vor, und das Böse greift unter der Götterwelt so weit um sich, dass die Götter ihrer[327] Schwüre und Eide nicht mehr achten, und der Brudermord auch unter ihnen zum Ausbruch kommt, indem sie auf Lokis Anstiften den gütigen Baldur töten.
Nun erkennen die Götter ihren Verderber und treffen sofort die ernstesten Vorkehrungen, ihn für immer unschädlich zu machen. Als aber Loki sah, dass die Asen gegen ihn aufgebracht waren, weil er zuerst Baldurs Tod verursacht, und daran Schuld war, dass er aus Hels Gewalt nicht erlöst ward, entfloh er und hielt sich verborgen. Odin liess nun dessen Kinder ergreifen, von denen Weissagungen verkündet hatten, dass den Göttern von ihnen noch grösseres Unheil bevorstehe, und wirft die Schlange ins Meer, die aber zu dem weltumgürtenden Midgardswurme heranwächst, und so oft auch Thor den Kampf mit ihr aufnimmt und so hart er sie auch bedrängt, so kann er sie doch nicht erlegen; die Hel wirft er in die Unterwelt hinab und giebt ihr die Gewalt über die neunte Welt (das Totenreich); den Fenrirwolf aber ziehen die Götter anfangs bei sich selbst auf; als jedoch auch er zum furchtbaren Ungeheuer heranwächst, und die Weisagungen verkünden, dass er zu ihrem Verderben bestimmt sei, und sie nicht wagen ihn zu töten, um den heiligen Frieden ihrer Wohnungen nicht zu verletzen, schlagen sie ihn in Fesseln. Ein Gleiches geschieht endlich auch Loki selbst, nachdem er voll giftigen Hohnes und satanischer Bosheit die Götter und Göttinnen mit den bittersten Vorwürfen und Schmähungen überhäuft hat.
Allein trotz aller dieser Vorkehrungen ist der geahnte Untergang dennoch unvermeidlich. Der von Loki ausgestreute Same des Verderbens wuchert fort, obgleich er selbst in Fesseln liegt, und diese seine Fesseln, sowie die des Fenrirwolfes, droht die Zeit endlich zu lösen, und Hel verstärkt von Tag zu Tag ihr trauriges Reich. Zwar ist die Zeit der furchtbaren Götterdämmerung noch in ungeheure Ferne gerückt, was dadurch angedeutet wird, dass die feindlichen Riesen zum Gelingen ihres Racheplanes eines Schiffes bedürfen, das aus den Nägeln toter Männer gefertigt sein muss und den Namen Naglfahr führt. Bis aber ein solches Schiff aus schmalen Nagelschlitzen der Leichen zusammengesetzt wird, verstreicht lange Zeit, und sie leitet noch durch die warnende Vorschrift Aufschub, allen Toten die Nägel vor der Bestattung oder Verbrennung zu schneiden. Die Riesen aber bringen jenes Schiff dennoch zustande, und grauenvolle Wahrzeichen deuten auf den Beginn der Katastrophe. Laut kräht der lichtrote Hahn bei den Riesen, der schwarzrote unter der Erde bei den Sälen der Hel, und der goldkammige bei den Asen, und »weckt die Männer beim Heervater (Odin)«. Die Götter, als die »Haften und Banden« der sittlichen und physischen Weltordnung, haben aber alle Macht verloren, so dass zunächst alle sittlichen Banden sich lösen und das Böse auf Erden in völlige, alles zerstörende Verwilderung ausbricht: »Brüder werden kämpfen und zu Totschlägern werden, Schwestersöhne werden die Sippe verletzen: die Gründe gellen, die Streitaxt fliegt, kein Mann wird des andern schonen.« Hart geht es in der Welt, grosse Hurerei, Beilalter, Schwertalter; Schilde werden gespalten; Windalter, Wolfsalter, ehe die Welt stürzt. Dieser sittlichen Verwilderung entspricht die Entfesselung aller verderblichen Naturmächte, als deren Personifikationen die Riesen galten. Ein entsetzlicher »Winter tritt ein; da fällt Schnee von allen Seiten, da ist der Frost gross und sind die Winde scharf; die Sonne ist ohne Kraft; drei solche Winter folgen[328] auf einander, ohne dass ein Sommer dazwischen wäre.« Alle Wetter geraten in Aufruhr; Loki wälzt sich herum, dass die Erde bebt und alle Gebirge, die Wälder entwurzelt werden und die Berge zusammenstürzen, selbst die Weltesche »Yggdrasil zittert, es rauscht der alte Baum, da der Riese (Loki) los kommt«: alle Fesseln und Banden brechen und reissen. Da wird der Fenrirwolf los; das Meer stürmt auf das Land ein, weil die Midgardschlange im Riesenmute sich wälzt und ans Land will. Da geschieht es, dass Naglfar flott wird, Hrymr heisst der Riese, der Naglfar steuert; auf ihm sind alle Reifriesen, aber mit Loki ist Hels ganzes Gefolge. »Der Fenrirwolf fährt mit klaffendem Rachen umher, dass sein Oberkiefer den Himmel, der Unterkiefer die Erde berührt, und wäre Raum dazu, er würde ihn noch weiter aufsperren: Feuer glüht ihm aus Augen und Nase. Die Midgardschlange speit so Gift aus, dass sie alle Himmel und Meere benetzt, und sie ist gar schrecklich und geht dem Wolfe zur Seite. Da kommen Muspels Söhne herangeritten, Surtur fährt an ihrer Spitze, und vor ihm und hinter ihm brennendes Feuer; sein Schwert ist überaus trefflich und strahlt hellern Glanz aus als die Sonne; aber in dem sie über die Himmelsbrücke Bifröst reiten, zerbricht sie. Steinberge stossen zusammen, Riesinnen stürzen; die Toten betreten den Holweg und der Himmel spaltet sich.« Da erhebt sich Heimdallr, der Wächter der Götter, und stösst mit aller Kraft ins Giallarhorn und weckt alle Götter, die dann Rat halten. »Mimirs Söhne (die Flammen) spielen und Yggdrasil entzündet sich bei dem Rufe des alten Giallarhorns.« Da reitet Odin zu Mimirs Brunnen und holt Rat von Mimir für sich und sein Gefolge. »Was ist mit den Asen? Was ist mit den Alfen? Ächzend zittert die ganze Riesenwelt; die Asen sind am Dinge. Die Zwerge stöhnen vor den Steinthüren, der Bergfeste Herren: Wisst ihr es nun? oder was? Muspels Söhne ziehen nach der Ebene, die Wiprid heisst und hundert Rasten breit ist nach allen Seiten, dahin kommt auch der Fenrirwolf und die Midgardsschlange, und auch Loki ist da mit Hels ganzem Gefolge und Hrymr mit allen Reifriesen; aber Muspels Söhne haben ihre eigene Schlachtordnung, die sehr glänzend ist.«
Jetzt wappnen sich die Asen und Einherier: »Fünfhundert Thore und vierzig meine ich, dass in Walhalla sind, achthundert Einherier gehen zugleich aus einem Thore, mit dem Wolfe zu kämpfen. Zuvörderst reitet Odin mit dem Goldhelm, dem schönen Harnische und seinem Spiesse, der Gungnir heisst; er geht dem Fenrirwolfe entgegen und Thor schreitet an seiner Seite, aber er kann ihm nichts helfen, denn er hat vollauf zu thun, mit der Midgardsschlange zu kämpfen. Freyr kämpft gegen Surtur, und es wird ein harter Kampf, ehe Freyr fällt, und wird das sein Tod, dass er sein gutes Schwert misset, das er Skirnir gab. Da ist auch Garmr, der Hund, los geworden, der vor der Gnipahöhle gebunden lag: das giebt das grösste Unheil, da er mit Tyr kämpft und einer dem andern zum Mörder wird. Thor trägt den Sieg über die Midgardsschlange davon; aber wie er neun Schritte davon gegangen ist, da fällt er tot zur Erde von dem Gift, das der Wurm auf ihn speit. Der Wolf verschlingt Odin und wird das sein Tod: aber alsbald wendet sich Widar, Odins Sohn von der Riesin Gridhr, gegen den Wolf und setzt ihm den Fuss in den Unterkiefer, mit der Hand ergreift er dessen Oberkiefer und reisst ihm den Rachen auseinander, und das wird des Wolfes Tod. Loki kämpft mit Heimdallr und wird einer des andern[329] Mörder. Jetzt ist der Untergang dieser Welt entschieden: Alle Männer werden die Heimstadt verlassen. Die Sonne beginnt zu dunkeln, die Erde sinkt ins Meer, vom Himmel schwinden die heitern Sterne, das Feuer wütet gegen das Feuer, es spielt die hohe Hitze gegen den Himmel selber.«
Unmittelbar auf die Götterdämmerung folgt in der Edda die Erneuerung der Welt und die Wiedererstehung der Götter. Und zwar hebt sich nach der Völuspâ die während der Götterdämmerung ins Meer gesunkene Erde herrlich grünend wieder empor, das Wasser strömt ab, und der im Gebirge nach Fischen jagende Adler fliegt über dasselbe hin. Wo vordem Asgard mit seinen Götterburgen sich erhob, breitet sich jetzt das Idafeld der Urzeit wieder aus, die Asen kehren wieder, auch Baldur und Hödur kommen zurück aus der Hel, sowie der den Wanen vergeiselte Hönir; sie finden sich auf dem Idafelde zusammen, sprechen von der mächtigen Midgardsschlange und erinnern sich an die gewaltigen Vorgänge und an Odins alte Runen. Dort liegen auch die wunderbaren Würfel im Grase, welche in der Urzeit Odin und sein Geschlecht gehabt hatten. Unbesäet tragen die Äcker, und alles Böse wird wieder gut gemacht. Auch die Menschen leben wieder auf und empfangen in der neuen Welt je nach Verdienst Lohn und Strafe, den Guten wird ein Saal auf Gimli (d.i. der Glänzende) zur Wohnung angewiesen, wo sie ewig Wonne geniessen, den Schlechten dagegen ein andrer Saal in Naströnd (d.i. dem Totenstrande), wo die furchtbarsten Qualen zur Strafe ihrer Sünden ihrer harren, während früher Walhalla nur die in der Schlacht Gefallenen aufnahm, die übrigen, Götter wie Menschen, zur Hel fahren, ohne dass deren Wohnung immer als ein Strafort gegolten hätte. Wie die Menschen, so leben auch die Zwerge und Riesen wieder auf; jene bewohnen im Norden auf den Nidabergen einen Saal aus Gold, diese auf dem Okolnir (d.h. Unkalten) den Biersal Brimir.
»Doch obgleich die Asen wiedergeboren und entsöhnt sind und wieder in harmloser Unschuld leben, wie in den Tagen ihres goldenen Zeitalters, so sind doch weder sie noch die weisen Wanen jetzt die Beherrscher der neuen Welt, sondern ein mächtigerer Gott. Da kommt der Mächtige zum Gericht der Götter, der Gewaltige von Oben, der über alles waltet; er fällt Urteile und entscheidet die Sachen, setzt heilige Ordnungen, die gelten sollen! Also ein höherer, mächtigerer Gott als die Asen übernimmt nun in der neuen, zum paradiesischen Urzustande zurückgekehrten Welt die Regierung, begründet neue heilige Ordnungen, hält Gericht und teilt je nach Verdienst den Menschen Lohn in Gimli oder Strafe an dem Naströnd zu. Und so kehrt mit der erneuten Welt, worin nur eine Macht, das reinste und heiligste Gute, ewig herrschen soll, wenn auch das Böse wenigstens unter den Menschen wieder ausbrechen kann, folgerichtig vom Polytheismus zum Monotheismus zurück; die alten Götter bestehen zwar neben ihm fort, aber sie leben in stiller Unschuld und Seligkeit in ihrem Elysium dahin, ohne an der Weltregierung Anteil zu haben.«
Es ist die Vermutung aufgestellt worden, dass unter diesem einen mächtigeren Gott der von Tacitus Germania Kap. 2 genannte Tuisko gemeint sei: sie feiern in alten Liedern den der Erde entsprossenen Tuisko und seinen Sohn Mannus, als Ursprung und Gründer ihres Stammes. Nach A. Rassmann in Ersch und Gruber, Art. Götterdämmerung.
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