Gerichtswesen

[274] Gerichtswesen. A. In germanischer Zeit. Der Mittelpunkt des staatlichen Lebens bei den Deutschen war die Versammlung des Volkes, sowohl der Gesamtheit als der einzelnen Abteilungen, in die eine Völkerschaft zerfiel: Dörfer, Hunderte, Gaue. Jede dieser Versammlungen, die der Dörfer ausgenommen, war zugleich Gericht, d.h. Versammlungen, in welchen alle öffentlichen Angelegenheiten der Mark, des Gaues und der Landschaft zur Sprache kamen, alte Feierlichkeiten des unstreitigen Rechts vorgenommen, endlich auch Zwistigkeiten beurteilt und Bussen erkannt wurden. Bei den meisten Stämmen hiessen diese Versammlungen thing, Ding, den Angelsachsen gemôt, engl. meet, meeting, bei den Friesen warf, alle diese Namen von der Bedeutung der Verhandlung, Besprechung.

Tacitus, Germ. 11 und 19, lässt nur die grosse Volksversammlung, concilium, gelten, die der Hunderte erscheinen ihm als Gericht. Sie fanden, kleinere wie grössere, bei Neu- und Vollmond statt. Als spätere Sitte erscheint, dass die Hunderte allwöchentlich, alle vierzehn Tage oder alle Monate zusammenkamen. Versäumnis der Gerichtsversammlung wurde bei einzelnen Stämmen mit Busse bedroht. Ausserordentliche Versammlungen wurden verkündet durch Anzünden von Feuern, durch Herumschicken eines Stockes oder Pfeiles. Man versammelte sich unter freiem Himmel, auf Anhöhen oder in Hainen, wohl vorzugsweise in der Nähe von Stätten, wo die Götter verehrt wurden. Jede Hunderte, wie schon jedes Dorf, hatte ohne Zweifel ihre regelmässige Versammlungsstätte. Wer teilnahm, erschien bewaffnet, Recht und Zeichen der Freiheit. Nur die Hufenbesitzer sind, wenigstens später, die vollberechtigten Mitglieder der Gemeinde, die zur Teilnahme am Urteil berufenen. Nach Tacitus sassen die Volksgenossen bei der Versammlung, später stand die Menge um den für die sitzenden Vorsteher abgegrenzten Raum, sie schlug den Ring, wie man zu sagen pflegte. Die Versammlung wurde nicht zu bestimmter[274] Zeit, aber feierlich eröffnet. Die Priester geboten Schweigen und den Thingfrieden, über den sie zu wachen haben. Der König oder Fürst trägt die Sache vor, um die es sich handelt. Eine weitläufige Verhandlung findet nicht statt, auch zu einer förmlichen Abstimmung schreitet man nicht. Die Menge gab ihren Beifall durch Zuruf oder Zusammenschlagen der Waffen kund; was missfiel, verwarf sie mit unwilligem Murren. Die besonderen Geschäfte waren Wahl der Fürsten, Erhebung eines Herzogs, Wehrhaftmachung der Jünglinge, Freilassung, Lossagung von der Familie, in einzelnen Fällen Verlobung und Vermählung, Übertragung von Land, Allgemeine Beschlüsse über Krieg und Frieden, Bündnisse und Verträge können nur auf den allgemeinen Versammlungen gefasst sein. In die gerichtlichen Verhältnisse teilten sich Landschaft und Hunderte. Schwerere, öffentliche Verbrechen, die mit Lebensstrafe bedroht waren, kamen an die Landesversammlung. Sonst war die Hunderte als Gericht thätig; die Schlichtung von Streitigkeiten, das Urteil über Verletzung des einzelnen erfolgte regelmässig hier. Überall gilt bei den Germanen, dass die versammelte Gemeinde urteilt, das Recht weist, die Entscheidung trifft, während der Richter die Leitung des Gerichts, die Ausführung des Urteils und was weiter zur Sicherung des Rechts gehört, in Händen hat. Vielleicht gab es Männer, welche als besonders des Rechtes kundig über dasselbe Belehrung zu geben hatten, die alten Formeln und Bussesätze derselben bewahrten. Vielleicht war eine solche Stellung manchmal mit der des Vorstehers der Hunderte, in älterer Zeit mit der des Priesters verbunden gewesen.

Das Landesthing war auch das Landesheer, dem Namen sowohl als dem Wesen nach. Die Versammlung, die den Krieg beschloss, führte ihn auch, brach unmittelbar zum Feldzug auf.

Mit der Ausbildung grösserer Reiche ändern sich die ursprünglichen Zustände vielfach. Das Landesthing wird unmöglich; an seine Stelle tritt zum teil das Märzfeld, siehe den Art. Campus Martius. Dagegen bleiben die Gerichtsversammlungen der Hunderte in Bestand.

B. In der merowingischen Zeit. Die Versammlungen der Hunderte gingen wesentlich unverändert aus der ältesten Zeit in die merowinger hinüber. Der regelmässige Termin war ein vierzehntägiger, der gewöhnliche Gerichtstag von alters her, wahrscheinlich seit heidnischer Zeit, der Dienstag. Bei den Alemannen fand das Gericht statt vor dem Grafen und dem Centenar, welcher in diesem Falle auch judex heisst, bei den Bayern vor dem Grafen und, da die Bayern den Centenar nicht kannten, vor einem wie es scheint durch Mitwirkung des Volkes bestellten judex; in beiden Stämmen hatte der Centenar oder judex die Sache um die es sich handelte zu untersuchen, er entschied, ob sie zum Urteil reif und fertig war, gab an, was das Gesetz über den vorliegenden Fall bestimmte, und ging mit seinem Ausspruch der Gemeinde voran. Er erscheint so als Vertreter und Organ des Volks, das zum Teil durch ihn Seinen Einfluss auf die Rechtsweisung übt. Der Graf ist anwesend, weil er der Träger des königlichen Blutbannes ist. Bei den Franken giebt es ausser ihm keinen andern Richter. Daneben war aber, wie früher immer, die Versammlung der freien Grundbesitzer gegenwärtig, um das Recht zu sprechen. Der Graf sass auf einem erhöhten Platze, ein neben ihm aufgehängter Schild bezeichnete die Hegung des Gerichts. Regelmässig ist auch ein Schreiber gegenwärtig. Die Versammlung fand[275] unter freiem Himmel an der bestimmten Gerichtsstätte statt. Sie dauert bis Sonnenuntergang. Die Ladung ergeht vom Kläger selbst. Das Prinzip der Vertretung ist schon weit gediehen, zunächst natürlich in Civilsachen. Eideshelfer, Gottesurteil und Zweikampf (siehe die besonderen Artikel) behaupten ihren Platz. Grössere Versammlungen als diejenigen der Hundertschaften, eigentlich Gauversammlungen, gab es in merowingischer Zeit nicht mehr. Dagegen findet man in dieser Periode Landesversammlungen der alemannischen und bayerischen Gesamtheit, wobei die weltlichen und geistlichen Grossen sich um den Herzog zusammenscharten und freie Volksgenossen sich sonst einfinden mochten; diese Landtage wurden wie die grossen Märzfelder im März abgehalten und waren, was in dem Wesen aller deutschen Versammlungen liegt, immer zugleich Gerichte.

C. Karolingische Zeit. Die Teilnahme am Gericht, früher ein Recht und eine Ehre des Freien, wird allmählich als Last empfunden, der man sich zu entziehen sucht; die Zahl der vollberechtigten Freien hat abgenommen, ein Teil derselben und namentlich die Grafen, die durch ihre militärische Gewalt der gerichtlichen oft entzogen werden, liegen draussen im Felde. Daraus ergeben sich folgende Veränderungen im Gerichtswesen: Gerichtsversammlungen des ganzen Gaues sollten jährlich bloss zwei bis drei stattfinden, von jetzt an unter einer dazu hergestellten Bedachung, einem förmlichen Gerichthaus, nie in der Kirche. Eine grössere Zahl von Teilnehmern wurde; schon dadurch ausgeschlossen. Niemand soll hier bewaffnet mit Lanze und Schild – das Schwert blieb gestattet – sich einfinden. Gerichts- und Heerversammlung fallen also nicht mehr zusammen. Die in kürzeren vierzehntägigen Fristen abzuhaltenden Gerichte werden von einem Abgeordneten (missus) oder vom Centenar abgehalten; solche Gerichte urteilen nur über geringere Sachen; über Leben, Freiheit und Eigentum entscheidet das Grafengericht, jedoch ohne gesetzlich bestimmte Kompetenzausscheidung; denn immer noch erscheint der Graf als der ordentliche Richter; der Vicarius oder Centenarius fungiert nur in Vertretung des Grafen. Die Zahl der Gerichtstage möglichst zu beschränken, ist Streben der karolingischen Gesetzgebung; ebenso soll zu anderen Gerichten als zu den drei allgemeinen niemand geladen werden, als wer etwas dabei zu verrichten hat. Zur Herstellung eines einfachern und kürzern, an der Stelle des alten und förmlichern Verfahrens wurde auch bestimmt: wer nach der zweiten Aufforderung ausblieb, dessen Vermögen sollte mit dem Bann belegt werden. Die Busse für Versäumnis fiel nicht mehr wie früher an die Gegenpartei, sondern an den Beamten.

Mit dem allen steht im Zusammenhang, dass bestimmte Personen für die Urteilsfindung bezeichnet und zur regelmässigen Anwesenheit im Gericht verpflichtet wurden, sie hiessen Skabinen oder Schöffen, von ahd. scafan, nhd. schaffen in der Bedeutung: Recht sprechen; der Name erscheint bald nach dem Beginn der Herrschaft Karl d. Gr. Es sind angesehene Männer mit freiem Grundbesitz, deren Auswahl unter Mitwirkung des Grafen und des Volkes erfolgte. Sie wurden vereidigt und konnten nur wegen Unwürdigkeit entfernt werden. In Italien waren es oft Geistliche. Die Skabinen gehören dem Gau, nicht der Hundertschaft an. Wie viel Skabinen jeder Graf hatte, ist nicht ausgemittelt; im Gericht sollten regelmässig sieben anwesend sein.

In der karolingischen Periode hat aber auch schon die Zersplitterung des Gerichtswesens begonnen,[276] dadurch, dass neben den gewöhnlichen Grafengerichten die geistlichen Gerichte sich ausdehnten, besondere weltliche Gerichte auf den Gütern der Grafen entstanden und ein besonderes königliches Gericht vorhanden war.

D. Die. Zeit des Lehnwesens. Die im Laufe dieser Periode vor sich gehende Auflösung des Reiches in eine Reihe verschiedenartiger Gewalten und Herrschaften zersplittert auch das Gerichtswesen, und es bilden sich jetzt die besonderen Gerichte: das königliche, Hof- oder Pfalzgericht, die herzoglichen Gerichte, die gräflichen Gerichte, die Vogteigerichte, Hofgerichte, Gerichte von Unterbeamten, Stadtgerichte. Die ordentliche Gerichtsbarkeit ist aber fortwährend die gräfliche, selbst der Herzog wird als Richter zu den Grafen gerechnet.

Das echte Ding, d.i. das alte Grafengericht, wird in hergebrachter Weise dreimal im Jahr abgehalten, es heisst das jährliche, das grosse oder volle Gericht, später Landgericht, Landding, das Ungebotending oder auch das Botding. Ausser dem Grafen konnten ein solches Ding der Herzog, der Stellvertreter des Grafen, Vögte mit gräflichem Rechte, Dingvögte, unter Umständen Geistliche oder wer sonst in den Besitz dieses Rechtes gekommen war, abhalten. Die Zeit war häufig ein für allemal bestimmt, an den hohen kirchlichen Festen, Weihnacht, Ostern und Pfingsten oder Dreikönige, Montag nach dem weissen Sonntag und Mai, oder zweimal zur Zeit des Grases, einmal des Heues. Innerhalb der Grafschaft fanden sich regelmässig verschiedene Gerichtsstätten, meist zwei oder drei, manchmal nur eine. Noch immer wurde nicht selten in alter Weise unter freiem Himmel getagt, in einem Walde, auf einem Hügel, einem Kirchhof, an einer Brücke, einem Fluss, doch auch in grossen Orten und Städten. Alle Freie der Grafschaft waren dingpflichtig, später haben auch Ministerialen teilgenommen. Urteiler sind die Schöffen, vollfreie Männer, aus angesehenen Geschlechtern, lebenslänglich, vielleicht selbst erblich. Wer sie ernannte, ist nicht deutlich. Die Kompetenz der Grafengerichte bleibt im allgemeinen die alte: schwere Verbrechen, Streit über Freiheit und Eigentum.

Als unechtes oder gebotenes Ding galt das Gericht des alten Centenars oder Schuliheissen, der zwar auch mit Schöffen richtete: dieses Gericht wird besonders in den Städten von Bedeutung. Es war nur kompetent in Klagen um Schuld und Mobilien und in unerheblichen Strafsachen und konnte an jeder beliebigen hierzu geeigneten Stelle abgehalten werden.

Die Entwickelung der öffentlichen Gerichtsbarkeit war nun im allgemeinen die, dass die Gerichtsbarkeit, ihrer Natur nach dazu da, das Recht und den Frieden zu sichern, demjenigen, der sie besass, dem sie mittelbar oder unmittelbar übertragen wurde, die Grundlage für eine Stellung von nicht bloss amtlicher, sondern selbständig politischer Stellung gab. Der Zerfall der gerichtlichen Institutionen in die Kreise der Ritter, der Bürger, der abhängigen Bauern erschwerte die Durchführung gleichmässiger Rechtsgrundsätze. Rache und Fehde benachteiligten das Recht; die Ausbeutung des Rechtes auf Busse, für finanzielle Zwecke erzeugte Übelstände der schlimmsten Art, so dass die Gerichtsbarkeit geradezu ein Mittel zur Unterdrückung der unteren Klassen wurde. Zugleich wurde sie der Weg zur Bildung selbständiger grösserer oder kleinerer Herrschaften. Der Besitz der Gerichtsgewalt galt so sehr als Mittelpunkt aller staatlichen Gewalt, dass sie die Grundlage nicht bloss für eine[277] obrigkeitliche, sondern herrschaftliche Gewalt wurde. – Nach Waitz. Vgl. Rud. Sohm, die fränkische Reichs- und Gerichtsverfassung, Weimar 1871.

Quelle:
Götzinger, E.: Reallexicon der Deutschen Altertümer. Leipzig 1885., S. 274-278.
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