Gottesurteile

[334] Gottesurteile, Ordalien, ordalia, das lateinische Wort zufällig nach der angelsächsischen Form ordale des deutschen Wortes urteil gebildet. Man versteht darunter Proben, an deren Ausgang man einen Ausspruch der Gottheit über Schuld oder Unschuld, Recht oder Unrecht zu erkennen glaubte. Sie kamen auch bei anderen Völkern vor, bei den Griechen, namentlich aber den Indiern.

Die Arten der Gottesurteile bei den Germanen sind folgende:[334]

1) Das Kampfurteil oder der Zweikampf, judicium pugnae sive campi, pugna duorum, duellum, monomachia, singulare certamen, ahd. einwîc, chamfwîc, wêhadinc, altn. holmgangr, war das vornehmste Gottesurteil, und ursprünglich keinem germanischen Volke fremd. In der Regel konnte nur der freie Mann einen anderen zum Zweikampfe fordern, der schlechtere Mann aber konnte, wenn er angesprochen wurde, den Kampf nicht weigern. Personen, die nicht selbst zu kämpfen im stande waren, konnten oder mussten, je nachdem sie Kläger oder Beklagte waren, einen anderen für sich stellen, und zwar konnte dies entweder der Vogt als Vormund der Person sein, die ihr Recht durch Kampf geltend machen wollte, oder sonst jemand, der sich freiwillig oder für Geld dazu hergab. Das Recht aber, einen anderen als Kämpfer für sich zu stellen, stand allgemein zu: 1) denjenigen, die durch körperliche Mängel, durch Altersschwäche oder Jugend verhindert waren, selbst zu kämpfen; 2) den Weibern. Den letzteren war, wenn sich niemand fand, der für sie einstehen mochte, in späterer Zeit gestattet, sich selbst zu verteidigen, wofür, um die Kräfte auszugleichen, eigentümliche Arten des Weiberkampfes ersonnen wurden, wonach der Mann bis an den Gürtel in einer runden, etwas weiten Grube zu stehen und von da aus vermittelst des Kolbens mit der ausserhalb der Grube stehenden Frau kämpfen musste; 3) den Geistlichen; 4) Personen vornehmen Standes. Bei den Langobarden war es Sitte, die Kampfordale durch gemeine, bezahlte Kämpfer ausfechten zu lassen. Da der gerichtliche Zweikampf im späteren Mittelalter eher zunahm, so bildete sich in verschiedenen Ländern ein eigener Kampfprozess. Durch Privilegium waren gewisse Orte zu Kampfgerichten erhoben, oder gewissen mit Gerichtsbarkeit bekleideten Personen das Recht erteilt, dass alle Zweikämpfe innerhalb eines gewissen Distriktes unter ihrer Aufsicht und Leitung ausgefochten werden mussten. Besonders bekannt waren im 14. und 15. Jahrhundert die Kampfgerichte der Städte Hall in Schwaben, Ansbach, Würzburg, des Burggrafentums Nürnberg, des Landgerichtes zu Franken. Der Kampfplatz wurde von dem Richter angewiesen, doch hatte man auch bestimmte umzäunte Plätze dafür; von der Insel, auf welcher im Norden meist der Kampf vor sich ging, hiess hier der Zweikampf Holmgang. Zum Holmgang wurde eine fünf Ellen lange Haut oder ein Teppich hingelegt und an vier Pfählen befestigt, deren einer der Hauptpfahl, Tiosnur, hiess. Der, welcher den Fechtplatz zurichtete, musste zu diesen Pfählen rückwärts gehen, gebückt und seine Ohrläppchen haltend, so dass er den Himmel zwischen seinen Beinen durchsehen konnte, und eine Beschwörungsformel hersagen. Um den Teppich herum sollten drei Räume, jeglicher einen Fuss breit, und diese durch vier Stangen begrenzt sein. Der so eingerichtete Fechtplatz hiess eine befriedete Mark. Jeder sollte drei Schilde haben; wenn diese zerschlagen sind, muss man wieder, wenn man auch früher zurückgewichen war, auf den Teppich treten und die Hiebe mit den Waffen auffangen. War einer so verwundet, dass Blut auf die Erde fiel, so konnte man den Kampf als beendet ansehen. Wer so weit gewichen war, dass er mit beiden Füssen ausserhalb der Grenzstangen stand, war in die Flucht geschlagen. Jeder Streiter sollte einen Mann als Schildhalter bei sich haben. Der, welcher überwunden war, musste drei Mark als Lösegeld für sein Leben erlegen.

Auch in Deutschland war eine Art Sekundanten üblich, die Griz- oder Grieswärtel. Sie waren mit[335] langen Stangen oder Bäumen bewaffnet, welche sie mit Erlaubnis des Richters dem Sinkenden, Verwundeten oder Ermatteten zur Stütze darreichten. Auch hatten sie überhaupt dafür zu sorgen, dass bei dem Kampfe alles ohne Trug, List und Gefährde zuging, sie mussten Sonne und Wind, Licht und Schatten beiden Kämpfern gleich teilen.

Die Waffen waren ursprünglich die bei jedem Stamm gebräuchlichen: bei den Franken und Langobarden die Keule, bei den Alamannen, Sachsen, Friesen und Normannen das Schwert. Ritter erschienen später in voller Rüstung auf dem Kampfplatze, den übrigen Freien war eine eigene Rüstung vorgeschrieben. In manchen Gegenden blieb die Keule als Waffe des geringen Volkes und der Lohnkämpfer üblich. Zum Siege genügte es, dass das Blut des Besiegten den Erdboden färbte, oder der Besiegte durch Entkräftung oder Verlust der Waffen nicht mehr zu kämpfen im stande war; wer aber bis zum Sonnenuntergang sich verteidigte, wurde von der gegen ihn erhobenen Klage freigesprochen.

2) Das Los; seiner bedienten sich nach Tacitus Germania, Kap. 10 schon die Germanen, um den Willen der Götter zu erforschen. Es wird in den Verordnungen fränkischer Könige und in den Volksgesetzen erwähnt und wurde besonders bei Diebstahlbeschuldigungen angewendet. Später verschwindet es.

3) Feuerprobe, judicium ignis, probatio per ignem. Zu unterscheiden sind drei Arten: a) der Beschuldigte musste seine Hand eine, wahrscheinlich genau bestimmte Zeit in das Feuer halten und galt als unschuldig, wenn er sie unverletzt zurückzog. b) Der Beklagte musste seine Unschuld damit beweisen, dass er im blossen Hemde, oder in einem Wachshemde unversehrt durch einen brennenden Holzstoss ging; mit dieser Probe soll Richardis, die Gemahlin Karls des Dicken, ihre Unschuld bewährt haben. c) Üblicher und verbreiteter als die beiden genannten Feuerproben war die Probe des heissen Eisens. Auch hier sind zu unterscheiden: aa) die Probe des Eisentragens, wonach ein Eisen von bestimmter Schwere eine Strecke (gewöhnlich 9 Schritte) weit mit blossen Händen getragen werden musste, und bb) die Probe der glühenden Pflugscharen, deren in der Regel 9, oft aber auch 6 oder 12 in einer bestimmten Entfernung von einander gelegt wurden, über die der Angeklagte barfuss gehen musste. Auch diese Probe soll nach alten Chronisten die Gemahlin Karls des Dicken, ausserdem Kunigunde, Heinrich II. Gemahlin, und Emma, die Mutter Eduard des Bekenners, rühmlich bestanden haben.

4) Wasserprobe. a) Probe mit heissem Wasser, judicium aquae ferventis, bei den Friesen Ketelfang, Kesselfang, geheissen, gehört nebst dem Tragen des glühenden Eisens und dem Kampf zu den am weitesten verbreiteten und am häufigsten erwähnten Ordalien. Diese Probe ging dahin, dass der Beklagte aus einem Kessel, in welchem Wasser siedend gemacht worden, einen Ring oder Stein, der hineingeworfen war, mit blossem Arm unverletzt hervorholen musste.

b) Probe mit kaltem Wasser. Der Beschuldigte wurde entkleidet, mit einem Strick um den Leib (um ihn wieder herausziehen zu können) ein oder auch mehrere Male in das Wasser geworfen; das Untersinken wurde für ein Zeichen der Unschuld, das Schwimmen für einen Beweis der Schuld gehalten. Zuweilen warf man den Beschuldigten in ein grosses, dreifudriges Gefäss statt in ein eigentliches Gewässer. Das älteste historische Zeugnis für den Gebrauch dieser Probe ist ein Verbot desselben durch Ludwig den Frommen vom Jahr 829; man findet sie wenigstens[336] vom 12. Jahrhundert an über Deutschland, Frankreich, Spanien, Italien, England und Schottland verbreitet. Sie erhielt sich besonders in den Hexenprozessen.

5) Kreuzurteil. Beide streitenden Teile mussten mit aufgehobenen Händen an einem Kreuze stehen; wer von ihnen zuerst die Hände sinken liess oder bewegte, galt für besiegt. Zuweilen wurde gefordert, dass beide Teile so lange vor dem Kreuze stehen mussten, bis einer von ihnen vor Ermattung hinfiel. Diese Probe wird zuerst in einem Kapitulare Pipins vom Jahre 782 erwähnt; in mehreren Fällen hat sie Karl der Grosse vorgeschrieben, der auch verordnete, dass die Kreuzesprobe und nicht der Kampf, entscheiden sollte, wenn unter seinen Söhnen Streit über Grenzen und Umfang ihres Gebietes entstehen würde. Ludwig der Fromme verbot dieses Gottesurteil im Jahr 826.

6) Probe des geweihten Bissens. Dem Beschuldigten wurde ein vorher benedizierter Bissen Brot und Käse gegeben, und er galt für überwiesen, wenn er denselben nicht leicht hinunterbringen konnte, er ihm im Halse stecken blieb oder wieder herausgenommen werden musste. Die Redensart »dass mir das Brot im Halse stecken bleibe« soll von diesem Gottesurteile herrühren.

7) Abendmahlsprobe. Der Beschuldigte musste mit den Worten: corpus Domini sit mihi ad probationem hodie, das Abendmahl nehmen. Diese Probe war vorzüglich bei der Geistlichkeit in Gebrauch, doch wurden auch Laien oft zur Reinigung durch dieselbe zugelassen.

8) Das Bahrrecht, jus feretri, wurde angewendet, um den Thäter bei einer verübten Mordthat zu ermitteln. Der Ermordete wurde auf eine Bahre gelegt und diejenigen Personen, auf welchen der Verdacht ruhte, mussten hinzutreten und unter Aussprechen gewisser Formeln mit der Hand den Leichnam des Ermordeten, gewöhnlich die Wunden und den Nabel berühren. Man glaubte, dass, wenn der Schuldige sich auf diese Weise dem Ermordeten nähere, ein Zeichen geschehen und die Wunden zu bluten oder zu zittern anfangen, der Tote seine Gesichtsfarbe ändern würde. Geschah von dem allen nichts und bekannte der Verdächtige nicht freiwillig, so musste seine Unschuld als erwiesen angenommen werden. Siehe Nibelungenlied, 984–986, Hartmanns Iwein, 1355–1364.

Abgesehen vom Zweikampfe, standen die Ordalien unter der Leitung der Geistlichkeit und wurden bis auf das kalte Wasserordal in der Kirche vollzogen, mit Einwilligung der Priester. Es konnte geschehen, dass Reinigungen durch Gottesprobe nicht vor sich gingen, weil die Priester ihren Dienst verweigerten. Namentlich durch Fasten bereitete man sich zum Gottesurteil vor. Zur Probe selbst war die Kirche für das Volk verschlossen und nur gewissen Zeugen geöffnet. Das zum Urteil Erforderliche wurde vorbereitet, der Kessel aufgesetzt, das Eisen in das Feuer gelegt. Der Angeklagte kniete nieder, der Priester erflehte im Gebete Gottes Beistand. Nach der Messe beschwor der Priester den Beklagten noch einmal, Gott nicht zu versuchen; schwieg derselbe, so reichte ihm der Priester das Abendmahl mit den Worten: Corpus hoc et sanguis Domini nostri Jesu Christi sit tibi ad probationem hodie. Alle Gegenwärtigen wurden mit Weihwasser besprengt und mussten vor dem Angeklagten beten. Evangelium und Kreuz wurden ihm zum Küssen gereicht und ihm andere Kleider angelegt. Während dem sang der Priester eine kurze Litanei und sprach dann über das Wasser, Feuer etc. einen Exorcismus und[337] eine Benediktion. Dann sprengte er das Eisen, das auf dem Feuer lag, mit Weihwasser und reichte es dem Angeklagten, oder der Kessel wurde vom Feuer genommen, der Stein oder Ring hinabgelassen. Bei einigen Ordalien wurde sogleich über den glücklichen oder unglücklichen Ausgang entschieden, beim Zweikampf wurde das Urteil von den Kampfrichtern ausgesprochen. Bei der Probe des heissen Eisens und Wassers wurde nach der Probe die Hand sofort eingewickelt, versiegelt und erst am dritten Tage geöffnet. Die Geistlichen liessen sich für ihre Mühewaltungen bei den Ordalien bezahlen.

Man betrachtete die Gottesurteile als ein erschwertes und äusserstes Beweismittel, als die letzte Zuflucht zur Ermittelung der Wahrheit. Erst wenn der Eid und die Stellung von Eideshelfern nicht mehr genügte, griff man zum Zweikampf und erst nach diesem zu den übrigen Ordalien. Die Rechtssammlungen enthalten deshalb überall das Streben, das Gottesurteil auf besonders qualifizierte Streitigkeiten zu beschränken. Oft hing es von der Willkür des Klägers ab, die gewöhnliche gesetzliche Beweisführung zu verwerfen, indem er bei Erhebung der Klage erklärte, die Sache auf die Entscheidung Gottes ankommen lassen zu wollen. Unter Umständen stand auch dem Kläger eine Wahl zwischen verschiedenen Proben offen.

Im 13. und 14. Jahrhundert noch waren Kampf und andere Proben in den meisten europäischen Ländern ein sehr übliches Beweismittel. In Frankreich hob Ludwig IX. den gerichtlichen Zweikampf im Jahre 1260 auf. In England waren seit dem 12. Jahrhundert die Krone und einsichtsvolle Männer bemüht, die Ordalien ausser Gebrauch zn bringen. In den skandinavischen Ländern wurde die Abschaffung der Ordalien besonders durch die Bemühungen der römischen Kurie und der höheren Geistlichkeit bewirkt. In Deutschland, wo das Kampfrecht als gerichtliches Beweismittel nie die Ausdehnung erhalten zu haben scheint, wie in Frankreich und England, verschwand in den Städten das Kampfrecht mit der Entwickelung eines eigenen Stadtrechtes bereits seit dem 13. Jahrhundert, doch kommen einzelne Fälle noch im 15. Jahrhundert vor. In den meisten europäischen Ländern trat an die Stelle der Gottesgerichte die Tortur, nur in England nicht. Zu neuem Leben wurden die aus den Gerichten fast ganz verschwundenen Gottesurteile durch die Hexenprozesse erweckt, besonders die kalte Wasserprobe und das Wägen der Hexen. Man glaubte nämlich, dass die von dem Teufel besessenen Hexen ihre natürliche Schwere verlieren, wodurch sie teils im Wasser oben, auf schwämmen, teils bei dem Wägen ungewöhnlich leicht befunden würden. Auch das Bahrrecht hat sich als letzter Rest der Gottesurteile in einzelnen Fällen bis ins 18. Jahrhundert erhalten. Wilda in Ersch und Gruber, Artikel Ordalien.

Quelle:
Götzinger, E.: Reallexicon der Deutschen Altertümer. Leipzig 1885., S. 334-338.
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