[395] Heldensage. Die germanische Heldensage teilt mit den Heldensagen aller übrigen arischen Völker den doppelten Ursprung aus dem Mythus und der Volksgeschichte. Das mythische Element der Heldensage erweist sich zuerst darin, dass einzelne Götter mit der Zeit als Sterbliche aufgefasst werden. Dadurch entstehen zuerst die Heroen; man vergass von einzelnen Göttergestalten, zum Teil dadurch, dass durch historische Ereignisse ihr Kult ausser Übung kam, dass sie Gottheiten seien und fasste sie nur noch als gewaltige und vorzugsweise mächtige Sterbliche auf, als Helden von göttlicher Abstammung, deren Leben man in die Anfänge der Volksgeschichte versetzte. Ihre Thaten wurden jetzt grösstenteils nicht mehr ihrer inneren göttlichen Natur, sondern äusserer Hilfe und äusseren Mitteln zugeschrieben, welche ihnen die Götter an die Hand gegeben hätten; solche Heroen sind in der deutschen Heldensage Siegfried. Gunther, Hagen, Hettel, Horant, Wate, Wieland, Orendel, Krimhild, Hilde. Diese Heroen pflegen nun mit der Zeit eine Verbindung mit geschichtlichen Erinnerungen einzugehen, der Mythus wird lokalisiert, und Göttliches und Menschliches fliesst in ein Bild zusammen. Wachsen so grössere und lebendige Mythen mit Erinnerungen aus dem glänzenden Heldenalter, welches gewöhnlich dem Eintritt hoch organisierter Völker in das helle Licht der Geschichte vorauszugehen pflegt, zusammen, so entsteht die Heldensage. Das Mythische an ihnen ist der feste Kern, um den sich das Historische herumlegt. Mannhardt, Götter, Abschn. II. Die mythischen Elemente der Heldensage sind ihrer Natur nach wechselnd; manche Züge mögen in die gemeinsame Urzeit der arischen Völker hinaufreichen, andere sind Resultate der verschiedenen Bildungsperioden der Mythenbildung; oft sind es bloss einzelne Züge, welche an diesem und jenem Helden oder an, dieser und jener Sage mythologischer Natur sind, während anderes historisch ist.
Ebensowenig als das mythische Element der Heldensage lässt sich das historische Element auf eine Einheit zurückführen. Ohne Zweifel sind schon lange vor der Völkerwanderung historische Thatsachen von der Sage aufgefasst und gestaltet worden; dieselben fielen aber meistenteils der Vergessenheit anheim, als die grossen tiefeinschneidenden Geschicke der Völkerwanderung kamen, an welche sich die Errichtung des fränkischen Reiches und damit der Eintritt der Germanen in die europäische Staatenentwickelung knüpfte. Diese Ereignisse gaben fortan die historische Unterlage, die Namen der Völker und Fürsten, der Städte, Länder, Flüsse, Berge und Wälder, welche den Rahmen der Heldensage bilden, ohne dass man den Grad der Ursprünglichkeit dieses historischen Elementes im einzelnen jedesmal anzugeben vermöchte. Wilhelm Grimm sagt in der Schlussbetrachtung zur Deutschen Heldensage: »Ruhend und in eine feste Form gebunden, dürfen wir uns das Epos zu keiner Zeit denken. Vielmehr herrscht in ihm der Trieb zur Bewegung und Umgestaltung, ja,[395] ohne ihn würde es absterben, wenigstens die Kraft lebendiger Einwirkung verlieren. Hier erprobt sich die Fähigkeit zur Poesie, und ein unfreies, verarmtes Gefühl wird jedesmal eine Verschlechterung des Epos bewirken. Echte Fortbildung geht niemals aus Laune und Willkür, immer aus innerer Notwendigkeit hervor. Eines der bedeutendsten Mittel ist dabei ohne Zweifel die in verschiedenen Erscheinungen beobachtete Verknüpfung einzelner Sagen. Der Norden hat die Helge- und Krakasage der Sigurdssage beigemischt, Deutschland die Dietrichssage mit noch grösserem Erfolg. Aber das glänzendste Beispiel ist unser Nibelungenlied. Gerade der ausgezeichnetste Teil, der zweite nämlich, ist lediglich aus einer solchen Verknüpfung hervorgegangen. Nähme man Rüdiger und Dietrich heraus, die bedeutendsten Verwickelungen und ergreifendsten Stellen würden fehlen und der ganze grosse Kampf in die Erzählung von Gunthers und Hagens tapferer Gegenwehr vor ihrer Überwältigung sich zusammenziehen. So aber treibt die Dichtung, frisch getränkt, neue Sprossen und überall verkündigt sich ein höherer Schwung und eine reichere, gleichförmigere Fülle des Ausdruckes. Wahr ist es auf der anderen Seite, das Neue wird niemals ohne Einbusse an dem Alten gewonnen, und Einfachheit und Verstand der Grundsage leiden bei solchen Umbildungen fast immer; aber wir haben an dem ersten Teile des Nibelungenliedes ein Beispiel, wie ohne eine solche; Erfrischung die Sage lückenhaft wird, in sich zerfällt und allmählich erlischt. Siegfrieds Jugendleben, nur unvollständig angedeutet, zum Teil vergessen, Brunhildens damit verknüpftes Geschick, es würde sich besser, freilich auch in anderer Gestalt bewahrt haben, wenn ein neuer Strom der Sage wäre hinzugeleitet worden« ....
»Ich darf als ausgemacht betrachten, dass die geschichtlichen Beziehungen, welche die Sage jetzt zeigt, erst später eingetreten sind, mithin die Behauptung, dass jene Ereignisse die Grundlage geliefert, aller Stützen beraubt ist. Noch eine andere, nicht geringere Schwierigkeit, macht die damit verknüpfte Vorstellung von absichtlicher, poetischer Ausbildung des historischen Faktums. Der Dichter der Nibelunge Not musste danach vorsätzlich chronologische Verstösse begehen und sehr genau wissen, dass die Gestalten, die er auftreten liess, bis auf einige Namen, Geschöpfe seiner eigenen Einbildungskraft waren; gleicher Weise konnte er sich über die Unwahrheit der Thaten, die er sie vollbringen liess, unmöglich täuschen. Wie steht das in Widerspruch mit der nicht bloss in der frühesten Zeit, sondern noch bei den gebildetsten Dichtern des Mittelalters herrschenden Überzeugung von der vollkommenen Wahrheit der Überlieferung? Kann man glauben, dass gerade die, welche man sich als Verfasser jener Werke denkt, eine andere, der Klugheit unserer Zeit entsprechende Ansicht nicht allein hegten, sondern auch mit ungewöhnlicher Schlauheit verbargen? Überall bricht ein ehrlicher Glaube an die Wahrheit durch, jede Zuthat und weitere Ausbildung galt für eine blosse Ergänzung derselben. Dieser Glaube ist freilich naiv, aber nicht unverständig, denn er will in dem Gemüte von Menschen, die Historie und Poesie zu trennen noch nicht gelernt haben, nicht mehr sagen, als dass hier nichts aus der Luft Gegriffenes, sondern seiner letzten Quelle nach im wirklichen Leben Begründetes aufgenommen sei. Setzt man noch hinzu, dass auf eine Wahrheit dieser Art das Ganze, wie jeder einzelne Teil, vollkommen denselben Anspruch machen könne und nach einer historischen Thatsache zu fragen vergeblich, ja sinnlos[396] sein würde, da in dieser poetischen Läuterung und Herübernahme in das Gebiet des freien Gedankens jedes äussere Merkmal des Geschichtlichen leicht verschwinden müsste, so hat man, wie es mir scheint, das Richtige.«
» .... Das Epos, welches das ganze Leben zu erfassen strebt, kann den Glauben an überirdische Dinge nicht hintansetzen, noch die Weise, wie er sich äussert, ihr unbekannt bleiben. Es wird dort immer ein wesentliches Element seines Inhaltes finden, ja, es scheint mir ohne eine solche Mischung des Leiblichen und Geistigen gar nicht bestehen zu können, etwa wie Gesang beides, Worte und Töne, verlangt. Keinem Gedichte, wenn es wahrhaft beseelt ist, fehlt innere Bedeutung oder eine sittliche Erkenntnis; aber nichts berechtigt uns bis jetzt zu, der Vermutung, dass die deutsche Heldensage aus Erforschung göttlicher Dinge oder aus einer philosophischen Betrachtung über die Geheimnisse der Natur hervorgegangen sei und in einem sinnbildlichen Ausdrucke derselben ihren ersten Anlass gefunden habe. Sie selbst hat, so weit wir zurückblicken können, sich allezeit neben der Geschichte ihren Platz angewiesen. Die Lieder, welche die Sage von dem aus der Erde geborenen Gott Thuisto und seinem Geschlecht enthielten, die Tacitus, Germ. 2, alte nennt, sind untergegangen; meiner Ansicht nach bestanden sie neben den Heldenliedern, dergleichen jene waren, welche die Thaten des Arminius feierten.«
Man pflegt die Denkmäler der Heldensage auf verschiedene Weise zu gliedern; entweder nach den Haupthelden Siegfried, Dietrich von Bern und Gudrun, oder nach den beiden grossen Epopöen Nibelungenlied und Gudrun, denen man die zahlreichen kleineren Heldengedichte nach älterem Vorgange unter dem Namen Heldenbuch gegenüberstellt; oder man stellt eine Anzahl Sagenkreise auf, meist vier: 1. den niederrheinischen oder fränkischen, dessen Held Siegfried heisst; 2. den burgundischen, mit Gunther, Gernot und Giselher, Ute, Krimhild und Brunhild, Hagen und Volker; 3. den ostgotischen Sagenkreis, dessen Helden ausser Dietrich von Bern, Hildebrand, Wolfhart, Wolfbrant, Wolfwin, Sigestab und Helfrich heissen; 4. von Attila, wozu die Helden Rüdiger, Hawart, Iring und Irnfrit kommen. Es fällt in die Augen, dass diese Gliederung, weil rein örtlich, nicht im ursprünglichen Wesen der Sage begründet sein kann. Uhland unterscheidet die Sagen von den Amelungen (Dietrich von Bern), den Nibelungen und den Hegelingen (Gudrun).
Die aus dem Kreis der deutschen Heldensage erhaltenen Gedichte sind folgende:
1. Hildebrandslied, siehe diesen Artikel.
2. Sigenot; Dietrich von Bern wird vom Riesen Sigenot überwunden, in eine Höhle geworfen und zuletzt von seinem Meister Hildebrand, gegen dessen Rat er ausgeritten und der den Riesen erschlägt, aus der Haft erlöst.
3. Ecken Ausfahrt. Die Königin Seburg von Jochgrim in Tirol wünscht Dietrich lebend gefangen zu sehen. Ecke zieht von Gripiar (Köln?) aus, um den Berner zu bringen, verliert aber im Kampf das Leben. Dietrich beklagt seinen Tod.
4. Laurin. Die Helden zu Bern unterreden sich über Dietrich und preisen seine tapferen Thaten. Nur Hildebrand will nicht ganz zustimmen, da der Held noch nicht mit Zwergen gekämpft habe. Darauf Auszug nach dem Rosengarten des Zwergkönigs Laurin, dem Dietrich den Zaubergürtel nimmt. Laurin gewinnt seinen Schwager Dietrich,[397] dessen Schwester Similte er geraubt, für sich und rettet dadurch sein Leben.
5. Der Rosengarten. Krimhild hält Hof zu Worms und hat daselbst einen schönen Rosengarten, als dessen Hüter Siegfried und eine Anzahl seiner Helden bestimmt sind; wer diese Hüter besiegt, von dem entbietet sich Krimhilds Vater sein Land zu Lehen zu nehmen; ausserdem sollen die Sieger einen Rosenkranz und einen Kuss von Krimhild zum Lohn erhalten. Auf Hildebrands Antrieb macht sich Dietrich von Bern auf, um den Kampf zu bestehen, wirklich werden Siegfried und die Burgundenhelden überwunden. Als eigentümlichste Figur tritt in dem Gedichte der Mönch Ilsan auf, Hildebrands Bruder, der Jahrhunderte lang eine Lieblingsfigur des deutschen Volkes blieb.
6. Dietrichs Flucht. Dietrich von Bern weicht, um seine sieben gefangenen Recken, welche Ermenrich aufzuhängen droht, vom Tode zu retten, von seinem Erbe zu den Hunnen.
7. Rabenschlacht. Dietrich klagt an Etzels Hofe um den Verlust seiner Lande durch den alles verwüstenden Ermenrich und erhält von Etzel ein Heer, seine Lande wieder zu erobern: auch giebt Etzel dem Dietrich seine beiden Söhne mit, für deren Leben sich Dietrich bei der Mutter verbürgt hat. Vor Ravenna lässt Dietrich sie nebst seinem eigenen Bruder Diethar unter Ilsans Obhut zurück; aber voll Kampfessehnsucht bitten sie, man möge ihnen gestatten, vor die Stadt zu reiten und sich umzusehen. Da geraten sie in das feindliche Heer und stossen auf den furchtbaren Helden Wittich, der mit seinem Schwerte Mimung auf sie losstürzt und beide nach langem rühmlichen Kampfe erschlägt. Dietrich, sobald er von der Söhne Tod hört, verfolgt zwar Wittich zornig; doch springt dieser ins Meer und wird von einer Meerfrau aufgenommen. Darauf folgt eine schmerzlich rührende Klage der Helche um ihre Söhne, sie flucht Dietrichen, vergiebt ihm aber, da sie seinen tiefen Schmerz sieht und seine laute Klage um die gefallenen jungen Helden vernimmt.
8. Alpharts oder Albharts Tod. Dietrich wird von seinem Oheim Ermenrich auf Sibichs verdächtigende Anstiftung bekriegt. Dem heranziehenden Heere reitet der junge Alphart entgegen auf die Warte. Dort wird er von den zu Ermenrich übergegangenen beiden treulosen Helden Heime und Wittich, zwei gegen einen, bestanden und von Wittich getötet. Den Gefallenen zu rächen dringen die Berner heran und treiben Ermenrich in die Flucht. Die Dichtung zählt zu den schönsten Denkmälern der Heldensage.
9. Biterolf und Dietleib. Biterolf, König zu Tolet, verlässt heimlich Weib und Kind, um die gepriesene Macht des Hunnenkönigs Etzel selbst kennen zu lernen, und begiebt sich unerkannt in dessen Dienst. Als sein Sohn Dietleib kaum herangewachsen, beschliesst er, seinen Vater zu suchen, zieht auch zu Etzel und findet den Vater mitten in der Schlacht. Eine Beleidigung, welche der junge Dietleib auf seiner Fahrt von den rheinischen Königen bei Worms erfahren, veranlasst einen grossen Heerzug dahin, wozu Etzel seine Hilfe giebt, auch Dietrich mit seinen Recken, sowie Ermenrichs Helden mit ausreiten. Nach siegreichem Kampfe kehren Biterolf und Dietleib zu Etzeln zurück und werden von ihm mit der Steiermark begabt, wo sie sich mit den Ihrigen niederlassen.
10. Dietrichs Drachenkämpfe. Dietrich und seine Gesellen kämpfen mit Riesen und Drachen; echter Sageninhalt wird hier gänzlich vermisst.
11. Etzels Hofhaltung, eine allegorische[398] Dichtung des 13. Jahrhunderts: Frau Saelde wird von dem Wunderer gejagt und von Dietrich, der den Jagenden tötet, errettet.
12. König Ortnit von Lamparten entführt mit Hilfe seines Vaters, des Zwerges Alberich, die Tochter des Königs Marchorel von Montebur, die in der Taufe den Namen Sydrat empfängt. Über den Verlust zürnend, sendet der König unter dem Schein von Geschenken durch den Jäger Velle dem Könige Ornit Drachen ins Land, die herangewachsen alles verwüsten. Ortnit selbst findet im Kampfe gegen dieselben den Tod.
13. Hugdietrich von Konstantinopel gewinnt, als Mädchen (Hildegunt) verkleidet, des Königs Walgunt von Salnecke schöne Tochter Hildburg, mit der er einen Sohn erzeugt. Dieser wird heimlich ausgesetzt und von Wölfen verschleppt; von einem Jäger gefunden, gelangt er an die Mutter und wird Wolfdietrich genannt. Walgunt willigt zuletzt in die Ehe seiner Tochter mit Hugdietrich, der Weib und Kind heimholt.
14. Wolfdietrich, dem seine Brüder, als einem unechten Sohne, sein Erbreich streitig machen, sucht dasselbe mit Hilfe seines getreuen Meisters Brechtung und der Söhne des letzteren zu erkämpfen. Er wird durch Zauber entrückt und seine getreuen Dienstmannen müssen, zu Konstantinopel auf der Mauer angeschmiedet, Wache halten. Vom Zauber befreit, sucht er auf langen Irrfahrten Beistand zu ihrer Erlösung und zur Erlangung seines Erbes, was ihm erst gelingt, nachdem er als Rächer des von den Lindwürmern getöteten Ortnit die Hand seiner Witwe und mit ihr das Reich zu Lamparten gewonnen hat.
Dahin gehören der hörnerne Siegfried, das Waltharilied, das Nibelungenlied und die Klage, worüber man die einzelnen Artikel sehe.
Dieser ist einzig durch das Gedicht Gudrun vertreten.
Wilhelm Grimm, Deutsche Heldensage; Uhlands Schriften, Bd. 1; Grässe, die grossen Sagenkreise des Mittelalters; Rassmann, Die deutsche Heldensage und ihre Heimat.
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