Kuss

[561] Kuss, ahd. chus, mhd. kus, ist ein uraltes Zeichen der Versöhnung, des Friedens und der Freundschaft; er macht in einigen Kindermärchen alles vergessen, giebt aber auch die Erinnerung zurück. An einem Kuss hängt die Lösung des Bannes; die Jungfrau in grausenhafter Gestalt, als Schlange, Drache, Kröte, Frosch, muss dreimal geküsst werden, um ihrer Verzauberung entledigt zu sein. Eine besondere Ausbildung hat der Kuss im höfischen Mittelalter erfahren, das auf die Formen des feineren gesellschaftlichen Lebens zwischen Mann und Weib ein grosses Gewicht legte. Schon Ulrich von Lichtenstein unterscheidet den Kuss der Minne, der Freundschaft und der Sühne. Eine besondere Aufmerksamkeit hat San Marte, Parzival-Studien, III, S. 172 ff. dem Kusse gewidmet und den Herzenskuss, den Sühnekuss, den Judaskuss und den Kuss der Etikette unterschieden. Der Herzenskuss ist entweder der Kuss der Minne:


ein kus in liebes munde,

der von des herzen grunde

her ûf geslichen kaeme,

ahi! waz der benaeme

seneder sorge und herzenôt. Tristan.

Am heissesten wird in den Tageliedern geküsst, wenn der Wächter den Morgen verkündet und es nun an ein Scheiden der Geliebten geht: urloup nâh und nâher baz mit kusse und anders gab in minne lôn; oder Kuss der Freude; derselbe geschieht bei Männern nur ausnahmsweise, bei überwallender Freude und froher Überraschung; sonst küssen sich Männer bei Begrüssungen oder beim Abschiede nicht. Zahlreich sind die Beispiele des Kusses der Gatten und der Eltern- und Verwandtenliebe.

Der Sühnekuss hat als Symbol, Pfand und Siegel aufgehobener Feindschaft und wiedergewährter Zuneigung eine ernstere Bedeutung. Küssen hât sô grôze kraft, daz man dâ mit süent vîentschaft, sagt Ulrich von Lichtenstein; und Wolfram von Eschenbach: küsse mich, verkius gein mir, swaz ich ie schult getruoc gein dir.

Der Judaskuss ist der Kuss des Verrates: daz was ein kus, den Jûdas truoc, dâvon man strichet noch genuoc.

Der Kuss der Etikette ist als gesellschaftliche Form der Gegensatz des Heizenskusses. Bei der Begrüssung küsste der Ankommende die Herrin, doch nur, wenn er an Rang gleich oder höher stand. In der Regel ersucht die Frau den vorgestellten Herrn um den Kuss; der Geringere aber bittet den Vornehmeren, seiner Frau oder Tochter den Begrüssungskuss zu geben. Es liegt eine verbindliche Auszeichnung darin, wenn der Vornehmere dem Geringeren, der Ältere dem[561] Jüngeren den Vortritt beim Kusse gestattet. Auch beim Abschied verband sich mit der Segens- und Wunschformel in der Regel der Kuss. Man küsste auf Mund, Wangen oder Augen, doch scheint der Kuss an den munt nur Auszeichnung der mâge zu sein. Die Franzosen küssten noch Nase, Kinn und Hals. Auch Turnierpreis konnte der Kuss sein, wie denn im Titurel ausser dem Kranze dem Sieger die Küsse von achtzig Mädchen in Aussicht gestellt werden. Der Kuss spielt auch im Zeremoniell des deutschen Königshofes eine Rolle. Der König pflegte beim offiziellen Empfang fremden Herrschern, aber auch Untergebenen, Geistlichen und Weltlichen, einen Kuss zu gewähren. Bei der Einführung in ein Amt oder der Belehnung ist der Kuss das Symbol; ausserdem ist er Zeichen der Versöhnung, der Gnade, des Friedens.

Quelle:
Götzinger, E.: Reallexicon der Deutschen Altertümer. Leipzig 1885., S. 561-562.
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