Cicero [1]

[120] Cicero, Marcus Tullius, geb. den 3. Jan. 106 v. Chr. zu Arpinum, bildete sich in Rom in der Redekunst und Rechtskunde aus, trat 26jährig als Gerichtsredner auf, fand jedoch für gut, dem Mißtrauen des Dictators Sulla auszuweichen und nach Griechenland zu gehen, wo er sich die griech. Bildung vollends aneignete. Nach seiner Rückkehr wurde er Quästor, Aedil, Prätor, durch sein eigenes Verdienst, nicht durch Geld oder den Schutz eines der mächtigen Parteihäupter. Im J. 65 v. Chr. wurde er Consul und vereitelte durch seine Klugheit und Entschlossenheit die Verschwörung der Catilina; ohne Zweifel rettete C. dadurch die Republik vor der drohenden Militärdictatur, wie er sich dessen oft genug rühmte; demungeachtet sah er recht gut ein, daß sich mit dem damaligen röm. Volke keine idealen Bestrebungen vertrugen und er verlangte deßwegen auch nicht mehr als ein leidliches republ. Staatsleben. Diejenigen jedoch, welche durch die Störung der gesetzlichen Ordnung ihre selbstsüchtigen [120] Absichten zu erreichen hofften, Cäsar, Crassus, Pompejus, Clodius und die Demagogen der niederen Gattung feindeten ihn an und trieben ihn 56 v. Chr. in die Verbannung nach Thessalonich. Nach 16 Monaten kehrte er unter den Freudenbezeugungen des röm. Volkes wieder heim, fand aber, daß es mit seinem Einflusse vorbei sei und lebte deßwegen mehr als Gelehrter denn als Staatsmann. Im J. 52 v. Chr. ging er als Statthalter nach Cilicien, wo er die Ueberfälle der Bergvölker züchtigte und sich von seinen Soldaten zum Imperator ausrufen ließ; er erhielt jedoch keinen Triumph und die geringe Meinung, die man in Rom von seinen militärischen Talenten hegte, wurde durch seine cilicischen Siege keine bessere. Nach seiner Rückkehr brach der Bürgerkrieg aus; er hielt zu Pompejus gegen Cäsar, nach der Schlacht von Pharsalus gab er aber die Sache der Republik für einstweilen verloren und wurde von Cäsar großmüthig aufgenommen. Er zog sich zurück, vertheidigte höchstens den einen oder andern seiner ehemaligen politischen Freunde vor Gericht, und verfaßte die meisten seiner philosophischen Schriften, aus welchen wir lernen, wie die gebildetsten Männer jener Zeit über den Zweck des menschlichen Lebens, die Staatseinrichtungen, die Religion etc. dachten. Nach Cäsars Ermordung trat er an die Spitze des Senates und vertrieb den Antonius aus Rom; aber C. war kein Soldat, er stellte deßwegen den Octavius dem Antonius entgegen, allein jener Neffe Cäsars ließ sich nur kurze Zeit als Werkzeug benutzen und handelte sobald er konnte in seinem eigenen Interesse. Er verbündete sich mit dem Antonius und Lepidus und auf ihren Proscriptionslisten, durch welche die republ. Partei vernichtet werden sollte, stand auch C. Einen Versuch sich über das Meer nach Griechenland zu seinem Freunde Brutus zu retten, mißlang durch widrige Winde und er wartete nun ruhig auf seinem Landgute Tusculum, bis die ausgesandten Mörder kamen, welche ihm den 7. Dec. 44 v. Chr. das Haupt abschlugen. Seine zärtlich geliebte Tochter Tullia war vor ihm gestorben, sein Sohn wurde unter Augustus Consul und Proconsul, war aber ein sehr mittelmäßiger Mensch. C. selbst war ein redlicher und muthiger Bürger und besaß politische Klugheit im hohen Grade, weil er jedoch kein Feldherr war, vermochte er den militärischmächtigen Parteihäuptern das Gegenwicht nicht zu halten. Er war der gebildeteste Römer seiner Zeit, der ausgezeichnetste gerichtliche und politische Redner; sein Styl ist anerkannt musterhaft, seine Prosa wird zu allen Zeiten und für alle Sprachen als Vorbild dienen; durch seine philosophischen Schriften beweist er seinen offenen Sinn für alles Schöne und hat uns darin die Weltanschauung der gebildeten alten Welt erhalten. Was wiegt gegen dies alles seine Eitelkeit und Geschwätzigkeit, die Unterthänigkeit, die er gegen Cäsar nach der Schlacht von Pharsalus bewies? – Seine Schriften sind seit Erfindung der Buchdruckerkunst einzeln und insgesammt vielfach herausgegeben worden, auch an Uebersetzungen und Bearbeitungen mangelt es nicht. Die neueste kritische Gesammtausgabe ist von J. K. Orelli.

Quelle:
Herders Conversations-Lexikon. Freiburg im Breisgau 1854, Band 2, S. 120-121.
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