Tiberius Claudius Nero

[475] Tiberius Claudius Nero, röm. Kaiser von 14–37 n. Chr., Sohn des gleichnamigen Vaters, der im letzten Bürgerkriege einige Zeit gegen Octavian thätig war, u. der Livia Drusilla, durch deren Verheirathung mit Augustus T. des Kaisers Stiefsohn wurde, erprobte sich als Feldherrn in Armenien, Rhätien, Germanien, Dalmatien u. Pannonien, mußte sich von seiner ersten Frau, die er liebte, [475] scheiden u. des Augustus ausschweifende u. stolze Tochter Julia heirathen. Unzufrieden mit seiner Lage, begab er sich nach Rhodus, erhielt Beweise der Ungnade des Augustus sowie von dessen Enkeln u. Thronfolgern (Cajus u. Lucius, den Söhnen der Julia u. des Cl. Marcellus), und wäre sicherlich nach dem Tode des Augustus geopfert worden, wenn die beiden jungen Cäsaren nicht rasch weggestorben wären, wie alle Welt glaubte, durch die Künste der alten Livia. T. wurde nun von Augustus adoptirt, mußte aber auch seinen Neffen Germanicus adoptiren. Nach des Augustus Tod wurde er vom Senat und Volk als Nachfolger anerkannt, die Aufstände der pannonischen u. rheinischen Legionen, welche höheren Sold bei kürzerer Dienstzeit verlangten, wurden unterdrückt u. T. herrschte nach den Grundsätzen des Augustus, doch unter rauhen Formen. Denn er verachtete die röm. Vornehmen, deren Schmeicheleien ihn ebenso erbitterten, als deren Untreue u. verbissener Haß gegen die Monarchie, die Augustus errichtet hatte und T. aufrecht erhalten mußte, wenn er nicht zu Grunde gehen wollte; das gemeine Volk, das nach Gaben u. Spielen schrie, konnte er ebensowenig achten, jedoch litt dieses unter T. nichts, da seine schwere Hand nur die verbrecherischen u. später auch die verdächtigen Vornehmen traf. Daß Germanicus ein Opfer der Eifersucht des T. wurde, läßt sich nicht beweisen, wenn es aber der Fall war, so geschah dies im Geiste der alten dynastischen Politik, dem nur wenige alte Herrscher nicht huldigten; daß die Wittwe des Germanicus, Agrippina, ein ehrgeiziges, leidenschaftliches Weib war, welches den T. furchtbar reizte, gesteht selbst Tacitus, u. wenn der mißtrauische Despot fast die ganze Familie vernichtete, so gab diese wenigstens dazu Veranlassung. Ohnehin hatte den Kaiser der Tod seines Sohnes, eines Enkels und eines Freundes verdüstert, und ärgerte er sich selbst über die Rolle, die ihm das Schicksal angewiesen hatte; endlich schenkte er sein Vertrauen dem Sejan (26 n. Chr.) und zog sich auf die Insel Capri zurück, um Senat u. Volk nicht unter den Augen haben zu müssen. Nach 7 Jahren enthüllte sich dem Kaiser die Verrätherei seines Vertrauten, der ihm selbst nach dem Leben trachtete, nachdem er ihm zuerst den Sohn ermordet hatte, und nun kannte seine Wuth keine Gränzen mehr und machte ihn zu einem gräßlichen Tyrannen. Tacitus und Sueton berichten von den schändlichsten Ausschweifungen, denen sich T. hingegeben habe, wenn er des Anblicks von Hinrichtungen u. Martern satt war, was jedenfalls übertrieben erscheint, wenn man bedenkt, daß T., der in seinen früheren Jahren keiner solchen Nachrede ausgesetzt war, erst in seinem Greisenalter ein schauderhafter Wüstling hätte werden müssen. Er st. 37 zu Misenum, wie es heißt, auf dem Todbette von dem Tribun Makro erstickt, als er aus einer Ohnmacht erwachte, und Caligula, der sich bereits huldigen ließ, sich nicht anders vor dem Zorne des Sterbenden zu sichern wußte.

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Herders Conversations-Lexikon. Freiburg im Breisgau 1857, Band 5, S. 475-476.
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