Begriff

[89] Begriff (lat. conceptus, notio, gr. logos, ennoia) heißt dasjenige psychische Gebilde, durch welches ein Mannigfaltiges zur einheitlichen Gedankenbeziehung verknüpft wird. In einem Begriff sind verschiedene Einzelvorstellungen nicht bloß zusammengefügt, wie in der Anschauung, sondern sie sind durch die Denkbeziehungen in Verbindung gesetzt, welche die Form ihrer Zusammengehörigkeit zum Ausdruck bringen. Daher führt nur Denken und Urteilen, nicht aber bloße Anschauung und Erfahrung, zur Bildung von Begriffen. Der Begriff ist somit nicht bloß die abgeschlossene Gesamtvorstellung, sondern er entsteht erst aus den Vorstellungen durch deren Vergleichung und die Heraushebung des Gemeinsamen. Der Begriff ist also das Produkt einer Analyse der Einzeldinge und Synthese ihrer gemeinsamen Merkmale (notae) durch Abstraktion. Er bestimmt daher ein Allgemeines und nicht ein Einzelnes. Der Begriff Dreieck, Mensch, Pferd usw. ist z. B. nicht die Vorstellung eines einzelnen Dreiecks, eines Menschen, eines Pferdes usw. überhaupt, sondern die Gesamtvorstellung vieler Dreiecke, Menschen, Pferde usw. Diese läßt sich freilich in jedem einzelnen Falle, wo man sie veranschaulichen will, nur dadurch zur Anschauung bringen, daß man sich ein spezielles Dreieck usw. vorstellt. Darum ist, was die Logik einen Begriff nennt, mehr eine Denkforderung als eine Denkleistung. Wir denken den Begriff auf einmal nur durch die Forderung der Zusammenfassung aller der einzelnen Dinge, auf die wir ihn anwenden wollen, während wir ihn in seinen Anwendungen nur in einer Reihe sukzessiver Vorstellungen und Denkakte erfassen können. Ein Begriff heißt klar, wenn das Bewußtsein ihn von allen anderen bestimmt unterscheidet, im entgegengesetzten Falle dunkel; er heißt deutlich, wenn auch die einzelnen Merkmale klar vorgestellt werden, im entgegengesetzten Falle verworren. Von Cartesius (1596-1650) bis auf Kant (1724-1804) galt Klarheit und Deutlichkeit als Kriterium der Wahrheit; in der Tat wird dadurch mindestens formale Richtigkeit erreicht und die Zuverlässigkeit der Erkenntnis angebahnt. – Man unterscheidet an jedem Begriff Inhalt (complexus) und Umfang (ambitus). Jener ist die Summe aller seiner Merkmale, dieser die Menge[89] der unter ihm befaßten Dinge. Je reicher der Inhalt ist, d. h. je größer die Zahl der Merkmale eines Begriffes sind, desto enger ist sein Umfang, d. h. desto kleiner die Zahl der Dinge, die er umfaßt; jede Hinzufügung eines Merkmals beschränkt das Geltungsgebiet eines Begriffes. Während z. B. das Parallelogramm nur die Quadrate, Rechtecke, Rhomben und Rhomboiden umfaßt, ist der Umfang des Begriffes »Viereck« größer, weil sein Inhalt kleiner ist, d. h. weil ihm das Merkmal des Parallelismus der Seitenpaare fehlt. Der Begriff, in dessen Umfang andere fallen, heißt in bezug auf diese der höhere oder übergeordnete; diese selbst heißen untergeordnet im Verhältnis zu dem übergeordneten, nebengeordnet im Verhältnis zueinander; die niederen haben bei engerem Umfang reicheren Inhalt. Nach den verschiedenen Stufen der Über- und Unterordnung der Begriffe scheidet man Reich, Kreis, Klasse, Ordnung, Familie, Gattung, Art, Abart, Spielart. – Dem Inhalte nach sind die Begriffe entweder verwandt oder disparat, je nachdem sie Merkmale gemeinsam haben oder nicht. So sind Eiche und Buche verwandte Begriffe, Ton und Farbe dagegen disparate. In bezug auf den Umfang heißen Begriffe, welche derselben Gattung angehören, homogén (aber spezifisch verschieden); die, welche kein Merkmal gemeinsam haben, heterogén (toto genere diversae). Begriffe, deren Umfang ganz derselbe ist, heißen Wechselbegriffe (aequipollentes, reciprocae), z. B. gleichseitiges und gleichwinkliges Dreieck. Begriffe kreuzen sich, wenn ihre Umfänge zum Teil ineinander fallen, wie Neger und Sklave; doch findet eine Kreuzung nur statt, wenn die Begriffe überhaupt vereinbar sind. Unvereinbar dagegen nennt man die Begriffe, welche demselben Gegenstand nicht in derselben Beziehung zugleich beigelegt werden können; und zwar unterscheidet man konträre Begriffe, d. h. solche, die nicht im Umfange des anderen liegen können, und kontradiktorische, d. h. solche, bei denen jeder Unterbegriff, der nicht im Umfange des einen liegt, in demjenigen des anderen liegen muß. So schließen die Begriffe schwarzes und braunes Pferd einander konträr, die Begriffe Sein und Nichtsein kontradiktorisch aus. Die Einteilung des Inhaltes eines Begriffs heißt Partitio, die des Umfanges Divisio. Die äußerste Grenzstellung nehmen unter den Begriffen einerseits die Kategorien, die allgemeinsten Begriffsformen, andererseits die Individualbegriffe, die äußersten[90] Sonderformen des Begriffs, ein. Das Ideal der Klassifikation durch Begriffe ist das wissenschaftliche System (s. d.), welches alle durch Erklärung und Einteilung auseinander abgeleiteten Begriffe enthält, wie es die Naturwissenschaften anstreben. Den Wert der Begriffsbildung hat zuerst Sokrates (469-399) erkannt; seitdem hat kein Philosoph ihn geleugnet. Vgl. Beiordnung und System.

Quelle:
Kirchner, Friedrich / Michaëlis, Carl: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. Leipzig 51907, S. 89-91.
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