[221] Gehör (auditus) ist derjenige Sinn, welcher durch die schwingende Bewegung der Materie, die sich der Luft mitteilt, gereizt, uns die Empfindungen von Schällen, Tönen, Klängen und Geräuschen vermittelt. Das Hörbare entsteht nur da, wo Bewegung ist. Sein körperliches Organ ist das Ohr. Die Gehörsempfindungen unterscheiden sich durch ihre Entstehungsart, ihre Qualität, ihre Intensität und ihre Zeitdauer voneinander. Der durch einfache periodische Schwingungen, die von 12-16 Doppelschwingungen in der Sekunde bis zu 40000-60000 reichen, hervorgebrachte Schall ist der Ton; der Klang ist die Zusammenfassung mehrerer Töne, deren Schwingungszahlen kleinste Vielfache eines ihm zu Grunde liegenden Haupttones sind; das Geräusch dagegen entsteht durch unregelmäßige Schwingungen. Die Töne und Klänge ordnen wir nach ihrer Qualität (Tonhöhe) zu einem System und stellen die Verhältnisse ihres Zusammenklanges (Harmonie) und ihres Mißklanges (Disharmonie) für gleichzeitige oder aufeinanderfolgende Töne und Klänge fest. Harmonische Töne erregen unser Wohlgefallen, disharmonische nicht; heftiger rhythmischer Lärm spricht nur robuste Naturen an, zartere werden dadurch ebenso wie durch regelloses Gesumme und schrille Töne peinlich erregt. Die Musik ist dagegen die älteste und auf das Gemüt am stärksten einwirkende Kunst. Sie gründet sich auf die harmonischen Verhältnisse und Unterschiede der Töne in Zeitdauer und Intensität. Akustische Täuschungen, die oft zu [221] Halluzinationen Anlaß geben, entstehen durch Abnormitäten des Blutlaufs im Hirn oder im inneren Ohr, durch Ermüdung oder Schwache der Nerven oder durch entotische (im Ohre selbst entspringende) Geräusche (d.h. Knacken, Sausen u. dgl.). Das Gehör ist ein höherer, für das Geistesleben des Menschen und die Erfassung einer objektiven Welt unentbehrlicher Sinn, auf dem ein großer Teil unserer Erkenntnis der Dinge beruht. Ein Vorzug der menschlichen Organisation besteht darin, daß wir Laute und Töne nicht nur vernehmen, sondern auch mit unseren eigenen Organen im reichsten Maße hervorbringen können. Dem pasiven Gehörsinne korrespondiert daher das aktive Sprachvermögen, das sich nur da entwickelt, wo der Gehörsinn vorhanden ist, bei dem Taubgebornen aber, trotz aller physischen Fähigkeit zum Sprechen, nicht zur Funktion kommt. Im Gegensatz zu dem Gesicht setzt uns aber das Gehör nur mit dem Näherliegenden, Terrestrischen, nicht mit dem Fernen, Kosmischen in Verbindung. Erst seit dem letzten Jahrhundert hat die Erfindung geeigneter Apparate (Telephon, erfunden von Reis 1860 usw.) es möglich gemacht, Töne und Worte auf weite terrestrische Entfernungen zu übermitteln; über die Erdatmosphäre reicht aber die Tonvermittlung auch jetzt nicht hinaus, und die pythagoreische Lehre von der Sphärenharmonie (s. d.), die das Ohr des Weisen vernimmt, ist eine Illusion. Vgl. H. Helmholtz, Die Lehre von den Tonempfindungen. 4. Aufl. 1877. Preyer, Die fünf Sinne des Menschen. Leipzig 1870.