[269] Hypothese (gr. hypothesis) heißt Voraussetzung, Annahme, Bedingung.. Ihre einfachste Form ist das hypothetische Urteil: »Wenn A ist, so ist B«, in dem die Gültigkeit des Nachsatzes (thesis) durch die des Vordersatzes (hypothesia) bedingt ist. Hypothetisches Verhältnis heißt demnach das Verhältnis von Bedingung und Bedingtem, von Grund und Folge. Hypothetisch heißt daher eine Behauptung, welche, weil ihre Gültigkeit erst von einer anderen abhängt, ungewiß, zweifelhaft ist. – Hypothesen im engeren Sinne sind verallgemeinernde Annahmen, welche man macht, um für eine Menge von Naturerscheinungen das Gesetz, den Erkenntnisgrund zu finden. Jede Hypothese ist also ein Versuch, die Lücken unserer Erfahrung durch Begriffe auszufüllen und zu erklären, eine vorläufige Annahme einer Prämisse, die eine für wahr gehaltene Ursache festzustellen versucht. Sie ist keine willkürliche, aus der Luft gegriffene Behauptung, sondern das Resultat der Rückschlüsse aus Erfahrungen und zugleich die Prämisse für zu versuchende Deduktionen. Die Form der Hypothese ist der Weg zu den höheren abschließenden Begriffen; sie dient dazu, den logischen Zusammenhang der Tatsachen zu vermitteln. Eine gute Hypothese muß die einschlägigen Tatsachen wirklich erklären, so einfach als möglich sein, nicht viele Hilfshypothesen erfordern und keinem Vernunft- oder Naturgesetz widersprechen. Für erwiesen gilt sie, wenn entweder alle anderen Erklärungen sich als logisch undenkbar oder faktisch unhaltbar herausstellen, während sie selbst den Tatbestand genügend erklärt, oder wenn sie über Gebiete Licht verbreitet, die bisher unbekannt waren. Sie erlangt dadurch den Rang eines wissenschaftlichen Lehrsatzes; solche Hypothesen sind z.B. das Trägheitsgesetz, die Gravitationshypothese Newtons, Laplaces Hypothese von der Kosmogonie, die Annahme eines Äthers, die elektrische Lichttheorie, das Prinzip von der Erhaltung der Energie. Daß alle Hypothesen keinen dauernden Abschluß der Forschung bilden, und jede der beständigen Nachprüfung bedarf, da neue Erfahrungen gemacht werden können und auch unser Geist sich vervollkommnet, hat in feinsinniger Analyse der Begriffe, Zahl und Große, Raum, Kraft und Natur neuerdings Poincaré (Wissenschaft und Hypothese, Leipzig 1904, übersetzt v. Lindemann) gezeigt. Die Aufstellung von Hypothesen hängt ebensosehr von Gelehrsamkeit als von scharfsinniger Kombination und glücklichem Blick ab. Vgl. Apelt, [269] Theorie der Induktion. J. St. Mill, Logik II. W. Wundt, Logik I. Sigwart, Logik. Tübingen 1873-78.