[717] Hypothēse (griech., »Unterstellung«), in der Logik ein angenommener, nur auf Wahrscheinlichkeit beruhender Satz. Daher auch, besonders in der Naturwissenschaft, eine zum Zweck der Erklärung gewisser tatsächlicher Erscheinungen gemachte, selbst aber unbewiesene Annahme. Die H. kann sich nun entweder (als provisorische H.) bloß auf Verhältnisse beziehen, die, wenn auch vorläufig noch nicht klargestellt, doch der direkten Beobachtung und somit späterer empirischer Feststellung fähig sind, oder aber (als theoretische H.) die Beschaffenheit und die Wirkungsgesetze der ihrem Wesen nach unwahrnehmbaren Ursachen der Erscheinungen betreffen. Zu der ersten Klasse gehört z. B. die H. der Existenz eines eisfreien Polarmeeres, die Hypothesen über die Entstehung der Gewitterelektrizität etc., zu der letztern die atomistische H. der Chemie, die Lichtätherhypothese etc. Die provisorische H. hat hauptsächlich eine heuristische Bedeutung, insofern sie einen Antrieb zu Forschungen gibt, durch die sie selbst entweder widerlegt oder bestätigt und damit zum Rang eines vollbewiesenen Erfahrungssatzes erhoben wird (vgl. Induktion). Die theoretische H. kann ihrer Natur nach niemals direkt und vollständig bewiesen, sondern nur zu immer größerer Wahrscheinlichkeit erhoben werden. Man hat sie deswegen vielfach ganz aus der Naturwissenschaft verbannen wollen (Comte, Mach, Ostwald und andre Vertreter des naturwissenschaftlichen Phänomenalismus); dann müßte jedoch zugleich auf den meisten Gebieten auf eine die Gesamtheit der Erscheinungen zusammenfassende und einheitlich erklärende Theorie (s. d.) verzichtet werden. Wenn selbstverständlich keine H. einen innern Widerspruch enthalten oder zu bekannten Tatsachen in direktem Widerspruch stehen darf, so muß eine wissenschaftlich berechtigte theoretische H. außerdem noch mit den Grundbegriffen unsrer Naturauffassung[717] übereinstimmen; so ist es z. B. logisch unzulässig, Substanzen mit veränderlichen Eigenschaften oder Kräfte, die an keinen materiellen Träger gebunden sind, vorauszusetzen. Sie muß ferner ausreichen zur Erklärung der Erscheinungen, darf aber auch nichtmehr enthalten, als zu diesem Zweck anzunehmen nötig ist. Diese Bedingungen in Verbindung mit der Forderung, daß auch keine Folgerung aus der H. der Erfahrung widerspreche, lassen der Willkür zumeist keinen sehr weiten Spielraum übrig. Vgl. Poincaré, Wissenschaft und H. (deutsch von Lindemann, Leipz. 1904).