[346] Materialismus heißt diejenige Richtung des Realismus, welche, von der äußeren Erscheinungsform der Welt ausgehend, die Materie (s. d. W.) als die Wirklichkeit, als den Träger oder die Grundursache aller, auch der geistigen Eigenschaften oder Vorgänge ansieht. Diese Ansicht gestaltet sich aber verschieden, je nachdem der Materie im Weltall außer und vor aller Organisation schon geistige Eigenschaften beigelegt werden (Hylozoismus) oder das geistige Leben nur als eine Kette von Funktionen oder Eigenschaften der organisierten Materie angesehen wird (reiner Materialismus). Während der Hylozoismus sich im Grunde als Pantheismus erweist und mit Religion und Moral verträglich ist, führt der reine Materialismus meist zum Atheismus und Eudämonismus. Im Altertum vertraten den ersteren Thales, Anaximandros und Anaximenes, den letzteren Leukippos, Demokritos, Epikuros und Lucretius, in der Neuzeit den letzteren Hobbes, Helvetius, Holbach, Diderot, Lamettrie, Vogt, Moleschott, Büchner, D. Strauß, Czolbe. Seine klassische Epoche hat der reine Materialismus im 18. Jahrhundert in Frankreich gehabt; er herrscht auch heute noch vielfach bei einseitigen Vertretern der Naturwissenschaft, namentlich bei denen, die, auf Physik und Chemie beschränkt, an den biologischen [346] Erscheinungen achtlos vorbeigehen. Der reine Materialismus hat seine Grundform in der Atomistik (s. Atom) gefunden. Doch steht ihm der Mechanismus (s. d.) und Dynamismus (s. d.) nahe. Der Materialismus hat seine erkenntnistheoretische Seite, insofern er die Sinneserkenntnis für die Grundlage aller Erkenntnis ansieht, seine kosmologische Seite, insofern er den Geist auf den Körper zurückführt, seine anthropologische, insofern er die Seelenvorgänge von leiblichen Vorgängen ableitet, seine ethische Seite, insofern er das Ziel des menschlichen Daseins in äußerm Nutzen, Genuß und Lust setzt, und endlich seine religionsphilosophische Seite, insofern er von Gott als Schöpfer und Erhalter der Welt gänzlich absieht.
Gegen den Materialismus spricht aber die Erwägung, daß seine Anhänger von der irrigen Annahme ausgehen, die Welt sei so, wie sie uns erscheine. Nicht der Stoff ist das Gegebene, sondern unsere Vorstellung von demselben, und das Bewußtsein ist der richtige Ausgangspunkt alles Philosophierens. Die Entstehung des Bewußtseins aus der Materie hat der Materialismus nie erklären können. Auch führt gerade die physikalische Forschung dazu, der Materie schließlich alle Eigenschaften, die qualitativen und die quantitativen, abzusprechen und sie als etwas ganz Unbekanntes erscheinen zu lassen. Vgl. Holbach, Système de la Nature. 1770. Lamettrie, L'homme machine. 1748. Büchner, Kraft und Stoff. 16. Aufl. 1888. K. Vogt, Physiol. Briefe. 1847. Dagegen: Ulrici, Gott und der Mensch, I. 1866. J. H. Fichte, Anthropologie. 3. Aufl. 1876. Wundt, Physiol. Psychol. 3. Aufl. 1893. F. A. Lange, Gesch. des Materialismus. 5. Aufl. 1896. O. Flügel, Der Materialismus. 1865. F. Kirchner, Der Zweck des Daseins. 1883.