Materialismus

[424] Materialismus (lat.) bezeichnet im theoretischen Sinne denjenigen metaphysischen Realismus, der als letzte Grundlage der gesamten Wirklichkeit die »Materie« (s. d.), sei es als kontinuierlich den Raum erfüllenden Stoff, sei es als Aggregat diskreter, durch leere Zwischenräume getrennter Körperteilchen (Korpuskeln, Moleküle, Atome), betrachtet. Als Realismus ist der M. vom Nihilismus und Idealismus, durch die materielle Beschaffenheit der vorausgesetzten realen Grundlage alles Wirklichen vom Spiritualismus und Dualismus, durch den Umstand, daß diese (materielle) Grundlage der sinnlich wahrnehmbaren Erscheinungen selbst nicht sinnlich wahrgenommen wird, vom Positivismus (dem die sinnlichen Erscheinungen selbst für das letzte gelten) verschieden. Im Sinne des M. ist natürlich die Materie ewig (ungeschaffen) und unzerstörbar, und es existiert nichts neben ihr, sondern alle (auch die seelischen) Erscheinungen hängen von ihr (als Modifikationen oder Wirkungen) ab und sind demgemäß vergänglich (die Seele ist ein »Gehirnphänomen«, das nach Zerstörung des Gehirns erlischt). Wenn der M. in alter und neuer Zeit zahlreiche Anhänger gefunden hat, so hat dies seinen Grund vor allem in der den äußern (körperlichen) Objekten eignen Handgreiflichkeit und Beständigkeit, derentwegen wir von vornherein geneigt sind, ihnen eine höhere Realität beizumessen als den flüchtigen und oft ganz übersehenen seelischen Regungen unsers Innern, sodann in der vielseitigen Bedingtheit der seelischen Vorgänge durch körperliche Ursachen (vgl. Psychophysischer Parallelismus). Hierzu kommt ferner die Anschaulichkeit der Grundelemente (Ausdehnung, Bewegung, Gestalt etc.), auf die der M. alles Wirkliche zurückzuführen sucht, und die Einheitlichkeit, Konsequenz und Geschlossenheit seiner Weltauffassung, welche die einfachste und leichtverständlichste Form des Monismus (s. d.) darstellt. Da es nämlich neben und außer der Materie nichts weiter gibt, und diese im Wesen überall gleichartig ist, so erscheint auf dem Standpunkte des M. die Welt als ein in sich geschlossenes Ganze, in dem alles Einzelne von allumfassenden Gesetzen beherrscht und mit Notwendigkeit bestimmt wird. Diese formalen Vorzüge machen es begreiflich, daß der M. eins der ersten Systeme war, auf die das von dem Bedürfnis einer einheitlichen Welterklärung getriebene Denken verfiel, und verleihen ihm besonders gegenüber dem Supernaturalismus,[424] der die Naturordnung durch übernatürliche Eingriffe durchbrochen werden läßt, dem Dualismus, der Leib und Seele (Natur und Geist) als absolut verschieden und nur äußerlich verbunden betrachtet, eine gewisse Stärke; zugleich unterscheidet er sich durch die Einfachheit und Anschaulichkeit seiner Voraussetzungen vorteilhaft von den abstrakten Begriffskonstruktionen vieler spekulativer Systeme. Anderseits liegen jedoch auch seine Fehler klar zutage. Der M. übersieht vor allem, daß wir von der Existenz einer materiellen Außenwelt nur durch unsre Empfindungen und Wahrnehmungen etwas wissen, und daß also die Realität der Materie nicht behauptet werden kann, ohne zugleich auch die des Bewußtseins (überhaupt die eines innern, geistigen Seins) zuzugeben. Er vermag ferner nicht zu erklären, wie die Materie seelische Zustände und Vorgänge hervorbringen soll. Daher haftet den materialistischen Systemen regelmäßig der Mangel an, daß sie das geistige Leben des Einzelnen und der Gesamtheit und seine eigentümlichen Erzeugnisse intellektueller, ethischer und ästhetischer Art nicht in ihr Weltbild einzuordnen und zum bessern Verständnis dieser Erscheinungen nichts beizutragen vermögen. Wird die Empfindung (das Bewußtsein) als eine ursprüngliche und allgemeine, wenn auch unerklärliche Eigenschaft der Materie angesehen, so geht der M. in Hylozoismus (s. d.) über, der in seinen wesentlichen Folgerungen mit ihm übereinstimmt. Ebenso ist der Monismus Haeckels u. a. nur eine Abart des M.

Im praktischen Sinne bezeichnet M. diejenige Denkungsart, die keine geistigen (ethischen u. ästhetischen), sondern nur äußere (materielle) Werte kennt, oder wenigstens die letztern ungleich höher schätzt als jene. Dieser M. führt, weil er die mit der Pflichterfüllung verbundene innere Befriedigung für nichts rechnet, in moralischer Hinsicht notwendig zum Hedonismus und Egoismus und, weil er den Erwerb materieller Güter als einzigen Endzweck betrachtet, zum gemeinen Mammonismus. Im weitern Sinn wird in den Geisteswissenschaften (z. B. in der Geschichte) auch die Richtung, die alle Erscheinungen aus äußern Umständen (Einflüssen der Natur, wirtschaftlichen Verhältnissen etc.) ableitet, materialistisch genannt. – Der theoretische M. findet sich schon bei den Indern in dem atomistischen System der Waiseschika des Kânâdâ, in den (gleichfalls atomistischen) Systemen des Leukippos und Demokritos, in dem durch Lukrez nach Rom verpflanzten Atomismus Epikurs und in der neuern Zeit bei dem Wiedererwecker desselben, Gassendi, bei dem Engländer Hobbes, bei den französischen Enzyklopädisten (Diderot, Holbach, d'Alembert, Helvetius, de Lamettrie), endlich nach dem Schiffbruch der Schellingschen Naturphilosophie und des Hegelschen Systems als Reaktion gegen diese bei deutschen Philosophen (Feuerbach, Strauß) und Naturforschern (Vogt, Moleschott, Büchner). Die konsequentesten Darstellungen des M. haben im Altertum Lukrez, im 18. Jahrh. Holbachs »Système de la nature«, die in der Gegenwart verbreitetste hat L. Büchner (s. d. 3) in »Kraft und Stoff« (Frankf. 1855; 21. Aufl., Leipz. 1904) geliefert. Vgl. Lange, Geschichte des M. (7. Aufl., hrsg. von Cohen, Iserl. 1902); D. F. Strauß, Der alte und der neue Glaube (15. Aufl., Bonn 1903); Wollny, Der M. im Verhältnis zu Religion und Moral (2. Aufl., Leipz. 1902); Fr. Schultze, Die Grundgedanken des M. und die Kritik derselben (das. 1881); Hyrtl, Die materialistische Weltanschauung unsrer Zeit (Wien 1897).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 13. Leipzig 1908, S. 424-425.
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