XII.

Schau- und Trauerspiel.

[177] Es konnte nach dem vorigen Kapitel den Anschein gewinnen, dass ich mich meinen älteren Bestrebungen im ernsten Drama ab- und ganz der heiteren Muse zugewendet gehabt hätte. Das war aber keineswegs der Fall. Nicht nur arbeitete ich meinen »Moritz von Sachsen« nochmals vollständig um und liess ihn (1873 bei O. Janke) mit einer, wie ich glaube, lesenswerten Vorrede in Buchausgabe erscheinen, ohne freilich die Theater dafür gewinnen zu können, sondern ich schrieb auch zwischenein neue Schauspiele, die vielleicht dort mehr Beachtung gefunden hätten, wenn ich ihnen nicht eben »der Königsberger Lustspieldichter« gewesen wäre. Doch habe ich über ihren Wert kein Urteil abzugeben und bemerke nur thatsächlich, dass die Schauspiele »Die Frau für die Welt« (1874 und im Dezember desselben Jahres auch im Königl. Schauspielhause in Berlin aufgeführt), »Die Stimme der Natur« (1876), »Geschieden« (1884) und später »Sein Kind« (1890), Marienburg (1893 und im Januar 1895 im Berliner Theater unter O. Blumenthals Direktion aufgeführt), entweder von den Bühnen ganz unbeachtet gelassen, oder rasch wieder aufgegeben sind. Über zwei jedoch möchte ich mich an dieser Stelle etwas weiter verbreiten, obgleich sie nicht viel mehr[178] Glück gehabt haben. Sie sind betitelt: »Die Fabrik zu Niederbronn« und »Peter Munk«.

Beide in ihrer Entstehungszeit weit auseinanderliegend, behandeln die soziale Frage. Ich war für sie sehr früh schon interessiert worden, als ich als Gymnasiast und Student mit Mitgliedern der freien Gemeinde in Königsberg in Berührung kam, die bereits damals »die ideale Forderung«: Aufhebung des privaten Eigentums, genossenschaftlicher Gebrauch der Arbeitsmittel, einheitlicher Unterricht, Gleichberechtigung der Frauen, demokratische Staats- und Gesellschaftsordnung u.s.w., lebhaft diskutierten.

Die Bestrebungen der Leiter des Königsberger Handwerkervereins (Johann Jacoby, Kosch, Bender, Falkson, Sauter, Witt), den kleinen Gewerbetreibenden im genossenschaftlichen Zusammenschluss den Weg zu wirtschaftlicher Kräftigung im Kampf mit dem Kapital zu zeigen, regten mich zum Nachdenken an. Hier wurde von der Beseitigung aller Verkehrsschranken und Bevorzugungen einzelner Stände das Heil erwartet. Dieser freisinnige Handwerkerverein war den Führern der Reaktion ein Dorn im Auge, und gegen ihn hauptsächlich wurde in der traurigsten Zeit zu Anfang der fünfziger Jahre der Arbeiterverein ausgespielt, der unter dem General v. Plehwe und seinen Paladinen patriotische Heldenthaten verrichtete. Hier sahen sich zuerst die auf den Tageslohn angewiesenen Arbeiter, zunächst freilich zu politischen Zwecken, in Gegensatz zu dem Bürgerstande gestellt, dessen Bemühen es sein sollte, die konstitutionelle Staatsform nach manchesterlichen Prinzipien für sich auszubeuten. Wie später die Bewegung unter den Arbeitern in ganz anderen Fluss gebracht, aber noch von ihrem Präsidenten Lassalle der Versuch gemacht wurde, ihr durch eine Frontstellung gegen die Fortschrittspartei die staatliche Unterstützung zu sichern, ist bekannt. Nach und nach gewann die Sozialdemokratie auch in Königsberg Boden und ich hatte in meiner Sommerfrische Rauschen alljährlich[179] Karl Schmidt zum Nachbarn, der dort ein Bauerhäuschen erworben und wohnlich eingerichtet hatte. Bei gegenseitigen Besuchen oder auf weiten Spaziergängen wurde von verschiedenen, doch nicht zu fern abliegenden Standpunkten aus untersucht, welche Berechtigung der Sozialdemokratie zuzusprechen und welche ihrer Zukunftspläne als utopistisch auszuscheiden seien. Es konnte nicht ausbleiben, dass alle diese Anregungen in mir den Wunsch zeitigten, einen sozialen Stoff zu bearbeiten. Wenn ich nicht irre, war es schliesslich irgend ein durch die Zeitungen verbreiteter Vorfall, der meiner dichterischen Spekulation eine bestimmte Richtung gab und so für die Grundlegung der Fabel von Einfluss wurde.

Die Handlung musste zum Gegenstand den Kampf zwischen Arbeitern und ihrem Fabrikherrn haben, aber ich hielt es meinen Zwecken für angemessen, denselben nicht aus der Lohnfrage hervorgehen zu lassen, sondern zunächst aus einem für sie indifferenten Ereignisse, das rein menschliche Leidenschaften entfesselte. Beide Teile stehen im besten Einvernehmen; der brave Fabrikherr, selbst aus dem Arbeiterstande hervorgegangen und durch Fleiss und Betriebsamkeit zu grosser Wohlhabenheit gelangt, hat das wärmste Herz für seine Arbeiter, die sich wohl bei ihm fühlen. Zu ihren Gunsten giebt er eine Fabrikordnung, auf deren strenge Beobachtung er hält. Darin befindet sich auch das Verbot jeder Handgreiflichkeit seitens eines Vorgesetzten gegen die Untergebenen. Nun vergisst sich aber sein alter Werkführer, mit dem er von Jugend her befreundet ist und dessen Sohn, ein studierter Techniker, seine Tochter liebt, in der Erregung durch einen seinem geliebten Herrn zugefügten Schimpf so weit, dass er einem Arbeiter eine Ohrfeige giebt. Die Arbeiter fordern der Fabrikordnung gemäss seine sofortige Entlassung. Der Fabrikherr, der die besonderen Umstände des Falles berücksichtigt wünschen muss, sucht zu vermitteln. Vergeblich. Man begegnet ihm selbst mit Undank. In der Erbitterung[180] darüber schliesst er sich nun einer bis dahin gemiedenen Koalition der Arbeitgeber an und veranlasst dadurch einen beiden Teilen höchst verderblichen Streik. Das Feuer wird in eigensüchtiger Absicht geschürt durch einen Agitator von Adel, dem es durch gewissenlose Vorspiegelungen gelungen ist, zum Präsidenten des Arbeitervereins gewählt zu werden. Endlich, als die Not am grössten, gelingt eine Aussöhnung des Werkführers mit dem geschlagenen Arbeiter und auf dieser Grundlage der allgemeine Friedensschluss. So die Fabel. Von dem Versuch einer »Lösung der sozialen Frage« konnte natürlich nicht die Rede sein. Die Dichtung sollte nur zeigen, dass sie durch inhumane Schärfung der Gegensätze unmöglich werde, und zur gegenseitigen Duldsamkeit mahnen. Aller Weisheit Schluss sei auch hier wieder jenes johannäische: »Kindlein, liebet euch!«

Der Plan war bereits anfangs des Jahres 1870 im Wesentlichen fertig gelegt. Die dramatische Bearbeitung schien mir zunächst ausser Zweifel. Ich entwarf deshalb ein vollständiges Szenarium und spitzte die Charaktere zum Zweck der theatralischen Wirkung scharf aus. Bald aber glaubte ich einzusehen, dass ein Stück dieser Art wenig Aussicht habe, von den Bühnen aufgenommen zu werden, für die es doch bestimmt sein müsste. Ich entschloss mich daher zur Form des Romans und veröffentlichte ihn unter dem Titel »Die Arbeiter« in der Zeitschrift »Daheim«, deren ganze Haltung den Verdacht sozialdemokratischer Tendenz ausschloss. Er ist dann auch bei demselben Verleger als Buch erschienen.

Nun glaubte ich auch für das ursprünglich beabsichtigte Schauspiel bessere Aussichten zu haben, und die Neigung, es aufzuschreiben, erwachte mit aller Stärke. So wurde im folgenden Jahre das Szenarium verbessert und vereinfacht, darauf das Stück in kurzer Zeit entworfen und nach einer neuen Durcharbeitung im Januar 1872 Woltersdorff eingereicht. Er erklärte sich sehr befriedigt, riet aber, da es[181] schon ein älteres Stück »Die Arbeiter« gäbe, zu einem anderen Titel, etwa »Die Fabrik von Niederbronn«. So hatte ich den Ort schon im Roman genannt, nachdem mir eine vielbändige Topographie Deutschlands die Gewissheit gegeben, dass er in Wirklichkeit nicht existierte. Ich war einverstanden. Leider hatte ich übersehen, dass jetzt das Elsass zum deutschen Reich gehörte und dort allerdings ein Fabrikort Niederbronn vorhanden war. Ein Brief, der mich etwas ungehalten versicherte, dass in dortigen Fabriken von dem geschilderten Vorfall nichts bekannt sei, machte mich darauf aufmerksam. Der Name war aber nun einmal nicht mehr zu ändern. Das Stück wurde Ende April 1872 in Königsberg aufgeführt, aber durch den Herrn Regisseur verdorben, der die Rolle des alten Fabrikanten übernommen und nicht gelernt hatte. Ich habe nie hinter den Kulissen so qualvolle Stunden durchlebt, als diesmal, wo ich genötigt war, seine Faseleien mitanzuhören, ohne ihnen Einhalt thun zu können. Er begegnete meinem Vorwurf mit der albernen Bemerkung, er könne nicht lernen, wie ein Schulknabe, und sei noch allemal der Mann, sich aus der Verlegenheit zu helfen. Auf meine Erwiderung, auch der geschickteste Schauspieler dürfe sich nicht zumuten, ex tempore Sätze zu formulieren, an denen der Autor selbst oft stundenlang gefeilt habe, um ihnen den möglichst prägnanten Ausdruck zu geben, entgegnete er zornmutig, er werde in dieser Rolle, die er mir so wenig zu Dank spiele, überhaupt nicht mehr auftreten. Woltersdorff mochte es mit ihm nicht verderben wollen und liess lieber mein Stück, als ihn, fallen.

Es hatte auch sonst Unglück. Neben vielen anderen Theatern war es auch von dem An der Wien in Wien bereitwilligst acceptiert worden. Zu meiner verdrießlichsten Überraschung verbot es die Zensurbehörde. Ich reichte bei der Statthalterei eine wohlmotivierte Beschwerde ein, erhielt aber darauf keine Antwort. Ich bat Dingelstedt, eine Aufklärung herbeizuführen und das ganz ungefährliche Schauspiel, wenn[182] es ihm sonst gefalle, auf seiner Bühne zu inszenieren. Er schrieb mir darauf am 4. März 1873: er habe nach verschiedenen Seiten hin Schritte gethan, das Schauspiel, welches ihm beim Lesen den besten Eindruck gemacht, für das Hofburgtheater frei zu machen. Zu seinem aufrichtigen Bedauern seien diese angestellten Versuche fruchtlos geblieben. Man stosse sich an massgebender Stelle weit weniger an das Thema des Stückes – die soziale Frage, die vom Dichter mit feinstem Takt berührt und wirksam verwertet worden sei – als vielmehr an den Umstand, dass die Zensurbehörde der Stadt- und Vorstadt-Theater das Stück thatsächlich verboten habe und dass nicht ohne Grund besorgt werde, es könnte sowohl dem Burgtheater, als der mit der Zensur des Reportoirs betrauten hohen Stelle, dem K.K. Ministerium des Hauses und der auswärtigen Angelegenheiten, vor der Öffentlichkeit ein gewisses Odium aufgebürdet werden, wenn ein Stück auf dem Burgtheater erschiene, dessen Aufführung einem Vorstadttheater untersagt worden. Unter solchen Umständen bliebe ihm nichts übrig, als auf Annahme zu verzichten. – So war mir Österreich verschlossen; aber auch in Deutschland mochten den Bühnenvorständen nachträglich Bedenken gekommen sein, da mehrere grössere Theater, darunter Kassel, Mannheim, München, Stuttgart, die bereits die Annahme erklärt hatten, die Aufführung unterliessen. Sie erfolgte dann allmählich doch an einem Viertelhundert meist kleinerer und in Fabrikstädten gelegener Theater, in Berlin beim Belle-Alliance-Theater, in Breslau bei Lobe. Ich war um die Erfahrung reicher, dass der so oft von der Presse erhobene Vorwurf, unsere Schauspieldichter scheuten sich vor den Aktualitäten, leichter aufgeworfen, als abgewendet sei.

Ich darf hier wohl eine Stelle aus einem Briefe ausziehen, den der bekannte sozialdemokratische Agitator und Lustspieldichter v. Schweitzer an mich bezüglich dieses Stückes schrieb. »Vor allem muss ich konstatieren,« heisst[183] es da, »dass ich, als ich in Leipzig mit Ihnen über die ›Fabrik‹ sprach, infolge einer Verwechslung ein anderes Stück mit ähnlichem Titel im Sinne hatte, sonst würde ich nicht geäussert haben, Sie hätten die Arbeiterfrage nur ›gestreift‹. Sie haben dieselbe vielmehr sehr fest in die Hand genommen. Das Stück ist überaus wirksam und interessant. Die Tendenz desselben ist nicht die mir zusagende, aber ich wundere mich, dass die besitzenden Klassen, die doch das Theater füllen, dasselbe nicht überall in einer zu sensationellem Erfolge führenden Weise aufgenommen haben. Nach Ihrer völlig gelungenen Bearbeitung des Stoffes ist kein Zweifel mehr, dass das Publikum diese Angelegenheit überhaupt nicht auf der Bühne behandelt sehen will. Denn was in dieser Richtung überhaupt zu leisten ist, haben Sie ohne Zweifel zu Wege gebracht ...«

War ich über dieses Schauspiel im Irrtum, so war ich's jedenfalls nicht allein.

Dasselbe Stück gab weiter ganz unerwartet die Veranlassung zu einem sonderbaren Briefwechsel mit Dr. Köberle, Verfasser der vielumstrittenen Broschüre: »Theaterkrisis im neuen Deutschen Reich«. Er war, vielleicht wegen seines scharfen kritischen Vorgehens gegen allerhand Bühnenmissstände, als Intendant nach Karlsruhe berufen worden, kündigte sich schon bei der Vorstellung dem Personal als ein sehr schneidiger Leiter an und kam sehr bald mit diesem, besonders dem Regisseur Otto Devrient, und einem Teil der kritischen Wortführer in unerfreuliche Konflikte, mit denen sich dann auch die Öffentlichkeit beschäftigte. Er hatte den besten Willen, reformatorisch zu wirken, fand aber wahrscheinlich nicht die richtige Form des Verkehrs mit denen, die ihm zur Beihilfe unentbehrlich waren, stiess überall an und machte sich schon vor Jahresfrist so unmöglich, dass er sich mit einer Pension zurückziehen musste. Zu meiner Verwunderung nun hatte Dr. Köberle »Die Fabrik zu Niederbronn« bald nach Antritt seines Amtes in Szene[184] gesetzt. Ich erfuhr davon erst durch das Schreiben eines Karlsruher Schulmanns, der mir mitteilte, dass Köberle mein Stück einer sonderbaren Umarbeitung unterzogen habe, und anfragte, ob dies mit meiner Einwilligung geschehen sei. Es war offenbar darauf abgesehen, mich gegen ihm in Harnisch zu bringen. Ich war jedoch vorsichtig, bat zunächst um Zusendung der Rezensionen und wandte mich zugleich an Dr. Köberle selbst mit dem höflichen Ersuchen, mir das Souffleurbuch zur Einsicht zugehen zu lassen. Ich erhielt dasselbe mit einem Brief voll Gift und Galle, in dem er mich beschuldigte, mit seinen Feinden im Bunde zu stehen. Ich überzeugte mich, dass er das Stück im ganzen sehr geschickt gekürzt und eingerichtet hatte, sodass ich ihm, zumal auch ein Erfolg keineswegs ausgeblieben war, nur besten Dank sagen konnte. Diese offene und vorurteilsfreie Anerkennung meinerseits wandelte seine Stimmung sofort um. Er entschuldigte nun sein Schreiben mit der Aufregung, in die ihn die fortwährenden Angriffe von rachsüchtigen Gegnern und missgünstigen Untergebenen versetzten, und ist dann auch nach seiner Pensionierung eine Zeitlang in freundlichem Briefwechsel mit mir geblieben.

»Peter Munk« – das zweite Schauspiel, von dem ich sprechen wollte – entstand erst zehn Jahre später und ist ganz anderer Art, streift aber auch die soziale Frage. Es handelte sich da um einen der ältesten Stoffe, die ich mir hatte durch den Kopf gehen lassen. Das Hauffsche Märchen vom kalten Herzen gab eine Grundidee, die sich dramatisch konnte fassen lassen, wenn man von der gegebenen Einkleidung absah und dafür eine neue Fabel erfand. Der Mensch, der sein Herz verwünscht, weil es ihn überall an rücksichtslos verständiger Thätigkeit und sicherem Fortkommen in der Welt, wie sie nun einmal ist, hindert, es wirklich verliert, von diesem Verlust auch durchaus den erwarteten Gewinn hat, sich aber doch seines herzlosen Elends bewusst[185] bleibt und schliesslich nach dem missachteten Dinge zurückverlangt, nun aber, da ihm auch dieser Wunsch in Erfüllung geht, dem Übermass des Glücks- und Reuegefühls erliegt, hat etwas von der allgemeinen Menschennatur, ist in gewisser Einschränkung der Mensch mit seinem Doppel- (Verstandes- und Gemüts-) wesen selbst. Das Märchen stellt nun den Fall so, dass durch eine zauberhafte Einwirkung die Herzthätigkeit beseitigt, der Mensch herzlos gemacht wird. Daraus erwächst für die Dichtung der Vorteil, dass der eine Zustand unmittelbar auf den andern folgt, der Übergang nicht erst von Schritt zu Schritt psychologisch nachgewiesen werden darf, der Mensch mit dem Herzen, das ihm zur Last ist, und der Mensch ohne Herz von einander nur durch einen mechanischen Gewaltakt getrennt sind, hinter dem sofort das neue Leben beginnen kann. Der Mann ohne Herz wird hier der Typus des herzlosen Menschen, der die Gesellschaft für seine selbstischen Zwecke ausbeutet und das soziale Elend derer schafft, die er gewissenlos unterdrückt. Nun entsteht freilich die Schwierigkeit, einen Menschen, bei dem das herzliche Gefühl einmal ertötet ist, zu dem Verlangen des Wiedergewinns seines Herzens hinzuführen, also ihn ganz verstandesmässig zu der Erkenntnis überzuleiten, dass er etwas entbehrt, was den ganzen Vorteil seines herzlosen Treibens nicht aufwiegt. Ich dachte mir die Lösung so, dass sich alle diejenigen, für die er schafft, von ihm abwenden, und die Gewissheit, ganz allein zu stehen und umsonst gearbeitet zu haben, ihm das Grauen vor sich selbst verursacht, aus dem sich zu befreien nun sein leidenschaftlicher Wunsch wird. Es ist ihm ja die Erinnerung an den früheren Zustand geblieben, und so strebt er wieder zu ihm zurück, sobald sein jetziger Zustand ihm die Befriedigung versagt. Sobald er sein Herz wieder schlagen fühlt, wird er sich auch der Verschuldung bewusst, es verloren zu haben, und bei dem Versuch der Sühne geht er, sittlich gereinigt, zu Grunde.[186]

Aus diesen Erwägungen heraus entstand 1881/82 mein »Peter Munk«. Ich hielt es für geraten, die Handlung in die Vergangenheit zurückzuverlegen, und fand die Zeit vor der französischen Revolution besonders passend, als die alte Gesellschaftsordnung aus den Fugen zu gehen drohte und das soziale Elend in mancher Hinsicht dem jetzigen glich. In dem Kostüm jener Zeit konnte auch die märchenhafte Voraussetzung glaublicher erscheinen. Ich dachte mir einen armen Dorfteufel, der sich sein Leben lang gequält und nichts vor sich gebracht hat, weil Gutmütigkeit und Gewissenhaftigkeit ihn hinderten, seine angeborenen Gaben vorteilhaft auszunutzen. Er hat mit einem armen Mädchen ein Liebesverhältnis unterhalten und ist nun, da dasselbe Folgen gehabt hat, drauf und dran, sich durch eine Heirat ganz die Hände zu binden. Auch in Zukunft sieht er keine Besserung seiner Lage, kein Vorwärtskommen möglich. In der Missstimmung darüber verwünscht er das gute Herz, und da findet sich nun »der Graue« zu ihm, der das Elixir besitzt, mit dem man es zum Schweigen bringt. Dieser »Graue« war mir die Verkörperung des Mystischen, Nebelhaften, Un-bewussten und zugleich phantastisch Spekulativen im Menschen, was seinen Willen, ihm selbst unbegreiflich, beeinflusst. Ich stellte ihn mir ungefähr vor, wie den Mann mit der grossen Tasche in Chamissos Peter Schlemihl, der durch ihn um seinen Schatten kommt, auch so ein anscheinend nichtiges Ding. Peter Munk erliegt der Verführung, weil es derselben kaum noch bedarf. Aus einem kurzen Schlaf erwacht, in den ihn der Graue versenkt, ist er der Mensch ohne Herz geworden, der sich nun sofort dadurch beweist, dass er die Geliebte verlässt und den von Werbern verfolgten Freund verrät. Das ist das Vorspiel. Das Schauspiel selbst setzt 20 Jahre später ein. Munk ist ein reicher und vornehmer Herr geworden, Grossgrundbesitzer und Grossindustrieller, sehr angesehen in der Gesellschaft von Leuten, die ebenfalls kein Herz haben. Er hat durch eine Heirat[187] ohne Liebe sein Glück gemacht, will es durch eine Konvenienzheirat seiner Tochter noch verbessern, so sehr diese, da sie einen braven Mann liebt, sich dagegen sträubt. Er braucht Zwang und treibt sie so zum Selbstmord. Seine Frau trennt sich von ihm. Und nun wird zugleich die Rückerinnerung wachgerufen durch die Tochter der verlassenen Geliebten, ihr an Gestalt sehr ähnlich (sodass dieselbe Schauspielerin beide Rollen übernehmen kann) und durch den verratenen Freund, der von seinem Landesherrn als Soldat nach Amerika verkauft, dort zum Krüppel geschossen und erblindet ist. An ihnen kann er nicht vorüber, wie er auch möchte. Dora ist noch das einzige menschliche Geschöpf, das an ihn durch Bande des Bluts geknüpft ist. Auf sie will er übertragen können, was er erworben hat, aber sie empfindet ein Entsetzen vor ihm, das auch nicht weicht, als er ihr gesteht, dass er ihr Vater ist. Auch von ihr verlassen, durch einen Aufstand seiner Arbeiter bedroht, verflucht er jetzt seine Herzlosigkeit und zieht dadurch wieder den Grauen herbei, den er durch seinen ernsten Willen zwingt, ihm das Herz zurückzugeben. Diese moralische Selbstrettung wird sein leibliches Verderben. Im Überschwang des Glückseligkeitsgefühls und von tiefer Reue ergriffen opfert er sein Leben, um den in der Grube verschütteten Bergleuten den Weg zur Befreiung aus Todesnot zu öffnen.

Dieses in Versen geschriebene, seiner ganzen Fassung nach jedenfalls ungewöhnliche Stück kam wirklich am 30. Oktober 1882 in Königsberg zur ersten Aufführung und errang dabei einen Erfolg, der mich selbst überraschen durfte, da ich nicht auf ein leichtes Verständnis zu rechnen hatte. Dass ihm bei seiner ernsten Haltung keine lange Reihe von Wiederholungen beschieden sei, wusste ich voraus, aber ich hatte gehofft, dass auch andere deutsche Bühnen sich an diese Dichtung wagen würden. Ich täuschte mich. Nur das Leipziger Theater unter Max Stägemann[188] folgte am 6. März des folgenden Jahres nach. Ich fuhr zur Aufführung nach Leipzig, um mit eigenen Augen zu sehen. Die Inszenierung durch Regisseur Max Grube, der auch selbst den Peter Munk vortrefflich spielte, liess nichts zu wünschen. Das Schauspiel im Ganzen schien etwas befremdlich zu wirken. Das Vorspiel wurde freundlich aufgenommen, der erste Akt aber schien das Publikum gleichgültig zu lassen und nach dem Zweiten blieb der Beifall nicht unbestritten; im dritten hob sich wieder sehr merklich die Stimmung und der vierte schlug durch, sodass ich einem dreimaligen Hervorruf Folge geben konnte.

Direktor Stägemann verehrte mir den bei solchen Gelegenheiten wohl üblichen Lorbeerkranz mit prächtigen Bändern in den sächsischen Farben. Man hatte ihn, nachdem er auf der Bühne seine Schuldigkeit gethan, in mein kleines Hotelzimmer gelegt. Als ich spät in der Nacht von einem Ehrenmahl des Symposions zurückkehrte, merkte ich einen scharfen Geruch, achtete aber darauf nicht weiter und legte mich zu Bette. Nach wenigen Stunden schon erwachte ich jedoch wieder mit den furchtbarsten Kopfschmerzen, ganz betäubt von der scharfen Ausdünstung der geölten Lorbeerblätter. Ich warf eiligst den Kranz in einen leeren Schrank und schloss die Thüren, aber die Reise am andern Tage war noch qualvoll genug. So fehlte nicht viel, dass mich der Lorbeer vergiftet hätte.

Das Drama ist dann nur noch, erst 1889, in Halle gegeben worden, meines Wissens an keiner anderen Bühne. Es gehört zu denen, um die es mir leid thut.

Quelle:
Wichert, Ernst: Richter und Dichter. Ein Lebensausweis, Berlin und Leipzig 1899, S. 177-189.
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