|
[72] Nach der Singweise: Wo ist mein schönster Fürst und Herr hinkommen, usw.
1.
Welt-Mutter du! wir, Eva, deine Kinder,
Wir gleichen dir, wir nachgebohrne Sünder:
Der Hoffart Sinn
Reißt uns dahin,
Der Stolz ist unsrer Herzen Uberwinder.
2.
Du stiegest hoch und fielest tieff hernieder:
Wir folgen nach und streben Gott zuwider
Mit Ubermut,
Der nicht gut tuht;
Es will doch nur der Gröste seyn ein jeder.
3.
Ich auch, O Gott, bin dieser Sünder einer,
Ein Eva-Sohn, der sich gar nit kan kleiner
Als andre sehn,
Sich will erhöhn:
Der Stolz macht mich vergessen dein- und meiner.
4.
Bist du es nicht, du Schöpfer aller Dinge,
Der mich mag machen groß u auch geringe?
Dein Tohn bin Ich
Und meistre dich,
Als ob dein Raht an meinem Willen hienge.
5.
Was zeih ich mich, ich Koht, ich Staub und Erde,
Daß ich vor dir aus Trotze murrend werde,
Da ich verlohrn,
Und bin gebohrn,
Ein Brand zu seyn dort auf dem Höllen Heerde?
6.
Laß mich vielmehr mit Danke dich erheben,
Daß du mir Seel- und Menschgestalt gegeben,
Und daß ich nit
Ein Türk noch Jüd
Noch Heyde bin, nicht hab der Thiere Leben.
[72]
7.
Mir sey genug, daß auch vor mich gestorben
Dein lieber Sohn, jens Leben mir erworben.
Ach! diese Ehr
Und keine mehr
Begehr' ein Mensch, dann sonst wär er verdorben.
8.
Je kleiner ich in meinen Augen schwebe,
Je höher ich in deinen mich erhebe.
Der Demut-Weg –
Der Himmelsteg!
Gib, daß ich hoch, doch in der Nidre strebe.
9.
Du sitzest hoch und sihest tieff hernider.
Muß ich schon seyn ein Fuß der andren Glieder:
Es schadt mir nicht.
Dein Wort verspricht:
Wer nidrigt sich, der wird erhöhet wieder.
10.
Laß mich allein, wie klein ich sey auf Erden,
Ein grosses Werkzeug deiner Ehren werden.
Dein' Ordnung hier
Gib, daß ich zier'
In Demut, schlecht und recht und ohn Beschwerden.
Buchempfehlung
Schnitzlers erster Roman galt seinen Zeitgenossen als skandalöse Indiskretion über das Wiener Gesellschaftsleben. Die Geschichte des Baron Georg von Wergenthin und der aus kleinbürgerlichem Milieu stammenden Anna Rosner zeichnet ein differenziertes, beziehungsreich gespiegeltes Bild der Belle Époque. Der Weg ins Freie ist einerseits Georgs zielloser Wunsch nach Freiheit von Verantwortung gegenüber Anna und andererseits die Frage des gesellschaftlichen Aufbruchs in das 20. Jahrhundert.
286 Seiten, 12.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.
468 Seiten, 19.80 Euro