Allvater

[252] Es seufzt meine Seele in unsäglichem Jammer

Um des Schmerzengeschlechts, um der Menschen Geschick.

Denn was in der Welt von wechselndem Wehe

Brandend sich bricht in jeglicher Brust: –

Mitempfinden, mitdurchkämpfen,

Mitdurchklagen muß ich es alles –

Alles, alles: – denn geheißen

Bin ich Allvater:

Bald des besiegten bessern Mannes,

Den ein Böser bezwungen,

Bitter beißenden Seelenbrand,

Wie er grollend in Todesgram[252]

Flucht dem grausamen Schicksal: –

Bald des Liebenden tödlich Leid,

Der in leere Luft mit den Armen langt,

Dem langsam das Leben verlodert

An nie verlöschender Sehnsucht Licht: –

Und der Witwe Wehklage,

Der Waisen Weinen

Und der versinkenden Seele

Letzten schrillen Verzweiflungsschrei: –

All' dies Elend, öd' und endlos,

Es empfindet's mit Allvater.

Und wie wenig wollen dawider

Ach die winzigen

Wonnen wiegen,

Die wie verwehte Rosenblätter

Wogen auf weiten, weiten Wellen,

Auf des Weh's unendlichem Ozean. –

Traun, ein Trost nur tröstet die Trauer:

Ein Ziel ist gezeichnet den zahllosen Zähren,

Eine Endezeit.

Ich segne den Tag, da der sengende Surtur

Erbarmend der letzten Menschen Gebilde

Zugleich mit der müden Erde zermalmt,

Da endlich der Quell unerschöpflicher Qualen

Versiegt: das letzte menschliche Herz.

Willkommen dem Tag! – Und wären sie weise,

Noch wärmer wünschten sie selbst ihn herbei.

Quelle:
Felix Dahn: Gesammelte Werke. Band 5: Gedichte und Balladen, Leipzig 1912, S. 252-253.
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