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[209] Du bist nicht schön von Angesicht,
Die unbedachte Menge spricht,
Doch deiner Anmuth ewger Reiz
Ist nur der Urquell ihres Neids.
Du bist nicht schön von Angesicht,
Behauptet jeder Kennerwicht.
Ich selbst gestehs. Was mich erfreut,
Ist deine Liebenswürdigkeit!
Du bist nicht schön von Angesicht,
Persianisch deine Wimper nicht,
Nicht griechisch, Theure, dein Profil,
Kein Römerzug dein Mienenspiel!
[209]
Du bist nicht schön von Angesicht?
So tröste dich ein Lobgedicht
Auf deine Liebe allbekannt
Freigebige und schlanke Hand!
Du bist nicht schön von Angesicht –
Doch weiß ein kritisches Gezücht,
Es flieht vor ihm und seinem Gruß
Dein feiner und bescheidner Fuß.
Du bist nicht schön von Angesicht.
Rührt euch die Wangenrose nicht?
Des Mundes süße Kirsche pflückt!
Ihr armen Schlucker wärt entzückt.
Du bist nicht schön von Angesicht –
Leucht auf, o keusches Augenlicht!
Ein Geist in deinem Glanze wohnt
Als wie der Friede in dem Mond.
Du bist nicht schön von Angesicht,
Dein Lockenhaar ist leicht Gewicht;
Dein volles Herz doch wiegt mir mehr,
Es arm zu machen, das ist schwer.
Du bist nicht schön von Angesicht,
Am Schwung der Brauen dirs gebricht;
Doch deiner Seele hoher Schwung
Entwaffnet die Verkleinerung.
[210]
Du bist nicht schön von Angesicht,
Ach Gott! von Marmor bist du nicht!
Holdselig aber bist du, Kind,
Wie Engel in dem Himmel sind!
Du bist nicht schön von Angesicht.
Doch Liebe geht nicht ins Gericht,
Doch Liebe ist der schönste – Zug,
Und Liebe ist sich selbst genug.
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»Fanni war noch jung und unschuldigen Herzens. Ich glaubte daher, sie würde an Gamiani nur mit Entsetzen und Abscheu zurückdenken. Ich überhäufte sie mit Liebe und Zärtlichkeit und erwies ihr verschwenderisch die süßesten und berauschendsten Liebkosungen. Zuweilen tötete ich sie fast in wollüstigen Entzückungen, in der Hoffnung, sie würde fortan von keiner anderen Leidenschaft mehr wissen wollen, als von jener natürlichen, die die beiden Geschlechter in den Wonnen der Sinne und der Seele vereint. Aber ach! ich täuschte mich. Fannis Phantasie war geweckt worden – und zur Höhe dieser Phantasie vermochten alle unsere Liebesfreuden sich nicht zu erheben. Nichts kam in Fannis Augen den Verzückungen ihrer Freundin gleich. Unsere glorreichsten Liebestaten schienen ihr kalte Liebkosungen im Vergleich mit den wilden Rasereien, die sie in jener verhängnisvollen Nacht kennen gelernt hatte.«
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