Lied der Kohlenhäuer

[60] Wir wracken, wir hacken,

Mit hangendem Nacken,

Im wachsenden Schacht

Bei Tage, bei Nacht –


Wir fallen und fallen auf schwankender Schale

Ins lampendurchwanderte Erde-Gedärm –

Die Andern, sie schweben auf schwankender Schale

Steilauf in das Licht! in das Licht! in den Lärm.

Wir fallen und fallen auf schwankender Schale –


Wir wracken, wir hacken,

Mit hangendem Nacken,

Im wachsenden Schacht

Bei Tage, bei Nacht –


Wir wühlen und wühlen auf wässernder Sohle,

Wir lösen vom Flötze mit rinnendem Schweiß

Und fördern zu Tage die dampfende Kohle.

Uns Häuern im Flötze ist heißer als heiß –

Wir wühlen und wühlen auf wässernder Sohle.


Wir wracken, wir hacken,

Mit hangendem Nacken,

Im wachsenden Schacht

Bei Tage, bei Nacht –
[61]

Wir pochen und pochen, wir bohrenden Würmer,

Im häuser- und gleisüberwachsenen Rohr,

Tief unter dem Meere, tief unter dem Türmer, –

Tief unter dem Sommer. Wir pochen im Rohr,

Wir pochen, wir pochen, wir bohrenden Würmer.


Wir wracken, wir hacken,

Mit hangendem Nacken,

Im wachsenden Schacht

Bei Tage, bei Nacht –


Wir speisen sie Alle mit nährender Wärme:

Den pflügenden Lloyd im atlantischen Meer:

Die erdenumkreisenden Eisenzug-Schwärme:

Der Straßenlaternen weitflimmerndes Heer:

Der ragenden Hochöfen glühende Därme:

Wir nähren sie Alle mit Lebensblut-Wärme!


Wir wracken, wir hacken,

Mit hangendem Nacken,

Im wachsenden Schacht

Bei Tage, bei Nacht –


Wir können mit unseren schwieligen Händen

Die Lichter ersticken, die Brände der Welt!

Doch – hocken wir fort in den drückenden Wänden:

Wir klopfen und bohren und klopfen für Geld –

Doch hocken wir fort in den drückenden Wänden:
[62]

Und wracken und hacken,

Mit hangendem Nacken,

Im wachsenden Schacht

Bei Tage, bei Nacht –


Wir pochen und pochen durch Wochen und Jahre,

Wir fahren lichtauf – mit »Glück-Auf!« dann hinab –

Wir pochen und pochen von Wochen – zur Bahre –

Und Mancher schürft unten sein eigenes Grab –

Wir pochen, wir pochen durch Wochen und Jahre.


Wir wracken, wir hacken,

Mit hangendem Nacken,

Im wachsenden Schacht

Bei Tage, bei Nacht.


Quelle:
Gerrit Engelke: Rhythmus des neuen Europa, Jena 1921, S. 60-63.
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