Ein Traum

[190] Von langer Reise kam ich heim, so träumte mir,

Und trat ins Haus, mein süßes Weib – ich wußte nicht

Im Spiel des Traumes, daß sie mir gestorben war –

Ans Herz zu drücken nach so manchem öden Tag,

Und fast verging in Ungeduld die Seele mir.

Doch wie ich fragte, hieß es, daß sie droben sei

Im obern Stockwerk: raschen Fußes stürmt' ich denn

Hinan die Treppen, aber nirgends fand ich sie.

Und wieder höher wies man mich, und wiederum

Von dort hinaufwärts über Stufen ohne Zahl

Zu klimmen hatt' ich, bis zuletzt im obersten

Geschoß ein glänzend heller Saal sich öffnete.

Da saß sie zwischen fremden Blumen, stillvertieft,

Das Haupt gelind zur Seite neigend, ganz wie sonst,

Wenn sich in ernstes Sinnen ihr Gemüt verlor,

Nur himmlisch schöner. Süße Düfte wallten rings,

Und solche Klarheit war umher, daß ich verstummt,

Vom Glanz geblendet auf der Schwelle zauderte.

Sie aber wandte, wie den Kelch im Sommerhauch

Die Lilie wendet, sanft zu mir das Antlitz her

Und sah mich an voll Liebe, daß das treue Licht

Der braunen Augen tief mir in die Seele drang,

Sie ganz erfüllend. Aber als ich nun nach ihr

Die Arme breitet', ach, da war das holde Bild

In Duft zerronnen plötzlich dem Erwachenden.

Kühl floß der Mondschein über mein verwitwet Bett,

Und heiße Tränen weint' ich in den Schoß der Nacht.

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 2, Leipzig und Wien 1918, S. 190-191.
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