Herbstklage

[246] O weh, wie ist so rasch dahin

Der grüne Sommer gegangen

Und hat mir doch den trüben Sinn

Mit Freuden nicht umfangen!

Dem Maien wollt' ich bieten Gruß,

Da hör' ich schon um meinen Fuß

Die fallenden Blätter rauschen.


O weh, nun hab' ich wieder ein Jahr

Geharrt auf Glück und Frommen,

Und ist das Glück doch nimmerdar

An meine Tür gekommen;

Oder es kam in Nächten tief,

Da ich festen Schlummer schlief,

Und ist vorübergezogen.[246]


Mein Leben deucht' mir als ein Traum,

Den ich geträumet habe;

Rechter Freude denk' ich kaum,

Seitdem ich war ein Knabe.

Tanz und Sang zergeht mit Gram,

Und wenn die Liebe Abschied nahm,

Wohl nimmer kehret sie wieder.


Die Welt ward falsch und eitel Schein,

Wie soll sie mir gefallen?

An Bechers Rande blinkt der Wein,

Doch drunten schwimmen die Gallen.

Was ich redlich focht, mißlang,

Was ich fröhlich sang, verklang

Wie Herbstwind über den Stoppeln.


O weh, nun bin ich gar allein

Mit meinem Harm geblieben.

Dahin mein Jugendsonnenschein!

Dahin mein Singen und Lieben!

Der Abend graut, die Luft geht kalt -

Winter, Winter, kommst du bald,

Auf meinen Hügel zu schneien?

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 1, Leipzig und Wien 1918, S. 246-247.
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