Das Geheimnis der Sehnsucht

[284] Nun wandelt von den Bergen sacht

Zum See herab die Sommernacht,

Und träumerisch mit heißem Sinn

Durch ihre Schatten schreit' ich hin.

Berauschend schwimmt im Strom der Luft

Daher der Rebenblüte Duft,

Der Glühwurm webt die lichte Bahn

Im Dunkel an des Turms Gemäuer,

Und droben glühn mit tiefem Feuer

Die Sterne rätselhaft mich an.


Dies ist die Stunde, da das Lied

Der Sehnsucht durch die Lüfte zieht,

Die tief in Wald, Gestein und Flur

Der Kern ist aller Kreatur:

Der Sehnsucht, die durch Felsen dicht

Den Quell emporzwingt an das Licht,

Die nach dem Himmel aus dem Wald

Mit tausend grünen Armen greift,

Aus hartem Stein als Echo hallt,

Im irren Wind die Welt umschweift,

Die aus der Nachtigallen Kehle

Im Silberton hinperlend quillt

Und aus der Blumen Auge mild

Dich anschaut mit der stummen Seele.


O Sehnsucht, die du wie ein Kind,

In Schlaf gelullt durch süße Lieder,

Doch stets aufs neu' erwachst und wieder

Zu weinen anhebst leis und lind,

Wie nimmst du heut mir Herz und Sinn

Mit deiner Klage ganz dahin!

Mir ist's, ich müßte Flügel heben

Und körperlos ins Weite schweben,

Verschenken müßt' ich wonniglich

Mein bestes Sein, mein tiefstes Ich;

Den ganzen Schatz der vollen Brust,

Andacht und Liebe, Schmerz und Lust,[285]

Der innersten Gedanken Hort,

Ich müßt' ihn in ein einzig Wort

Als wie in güldnen Kelch beschließen,

Um ihn verschwendrisch hinzugießen.


Umsonst! Kein Wort, sei's noch so groß,

Macht dich des tiefen Dranges los,

Den heißen Durst der Seele stillt

Kein Brunnen, der auf Erden quillt.

Wohl wähnt' ich einst in goldnen Stunden,

In meines Herzens Maienzeit,

Des Rätsels Lösung sei gefunden,

Und Minne heile jedes Leid;

Doch was so hoch mir war, so lieb,

Mir ward es - und die Sehnsucht blieb.


Darum zur Ruh', mein wild Gemüt!

Nicht alles wird hier Frucht, was blüht;

Du trägst, der Erde stummer Gast,

In dir, was nur der Himmel faßt.

Was für und für so ruhelos

Dich dunkel treibt auf deinen Wegen,

Es ist das erste Flügelregen

Des Falters in der Puppe Schoß;

Dir selbst bewußt kaum, ist dein Leid

Ein Heimweh nach der Ewigkeit.

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 1, Leipzig und Wien 1918, S. 284-286.
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