Kanton Schweiz

[145] An meinen lieben Hiller


Hier, in ermüdender Ruh, im bittersüßen Verlangen,


Da zu sein, wo mein Herz, und jeder beßre Gedank ist,

Reichet doch Erinnerung mir den zaubrischen Becher

Schäumend und voll, und hoher Genuß der kehrenden Bilder

Weckt die schlummernden Fittige mir zu trautem Gesange.


Bruder! dir gab ein Gott der Liebe göttlichen Funken,


Zarten geläuterten Sinn, zu erspähn, was herrlich und schön ist;

Stolzer Freiheit glühet dein Herz, und kindlicher Einfalt –

Bruder! komm und koste mit mir des zaubrischen Bechers.


Dort, wo der Abendstrahl die Westgewölke vergüldet,


Dorthin wende den Blick, und weine die Träne der Sehnsucht!

Ach! dort wandelten wir! dort flog und schwelgte das Auge

Unter den Herrlichkeiten umher! – wie dehnte der Busen,

Diesen Himmel zu fassen, sich aus! – wie brannte die Wange

Süß von Morgenlüften gekühlt, als unter Gesängen

Zürch den Scheidenden schwand im sanfthingleitenden Boote!

Lieber! wie drücktest du mir die heiße, zitternde Rechte,

Sahst so glühend und ernst mich an im donnernden Rheinsturz!

Aber selig, wie du, o Tag am Quelle der Freiheit!

Festlich, wie du, sank keiner auf uns vom rosigen Himmel.


Ahndung schwellte das Herz. Schon war des feiernden Klosters1


Ernste Glocke verhallt. Schon schwanden die friedlichen Hütten[146]

Rund an Blumenhügeln umher, am rollenden Gießbach,

Unter Fichten im Tal, wo dem Ahn in heiliger Urzeit

Füglich deuchte der Grund zum Erbe genügsamer Enkel.

Schaurig und kühl empfing uns die Nacht in ewigen Wäldern,

Und wir klommen hinauf am furchtbarherrlichen Haken.

Nächtlicher immer wards und enger im Riesengebürge.

Jäher herunter hing der Pfad zu den einsamen Wallern.

Dicht zur Rechten donnert hinab der zürnende Waldstrom:

Nur sein Donner berauscht den Sinn. Die schäumenden Wogen

Birgt uns Felsengesträuch, und modernde Tannen am Abhang,

Vom Orkane gestürzt. – Nun tagte die Nacht am Gebirge

Schaurig und wundersam, wie Heldengeister am Lego,

Wälzten sich kämpfende Wolken heran auf schneeiger Heide.

Sturm und Frost entschwebte der Kluft. Vom Sturme getragen

Schrie und stürzte der Aar, die Beut im Tale zu haschen.

Und der Wolken Hülle zerriß, und im ehernen Panzer

Kam die Riesin heran, die majestätische Myten.2

Staunend wandelten wir vorüber. – Ihr Väter der Freien!

Heilige Schar! nun schaun wir hinab, hinab, und erfüllt ist,

Was der Ahndungen kühnste versprach; was süße Begeistrung

Einst mich lehrt' im Knabengewande, gedacht ich des hohen

Hirten in Mamres Hain und der schönen Tochter von Laban,

Ach! es kehrt so warm in die Brust; – Arkadiens Friede,

Köstlicher, unerkannter, und du, allheilige Einfalt,

Wie so anders blüht in eurem Strahle die Freude! –

Vor entweihendem Prunk, vor Stolz und knechtischer Sitte

Von den ewigen Wächtern geschirmt, den Riesengebirgen,

Lachte das heilige Tal uns an, die Quelle der Freiheit.

Freundlich winkte der See3 vom fernen Lager; die Schrecken

Seiner Arme verbarg die schwarze Kluft im Gebirge:[147]

Freundlicher sahn aus der Tiefe herauf, in blühende Zweige

Reizend verhüllt, und kindlichfroh der jauchzenden Herde

Und des tiefen Grases umher, die friedsamen Hütten.

Und wir eilten hinab in Liebe; kosteten lächelnd

Auf dem Pfade des Sauerklees, und erfrischender Ampfer,

Bis der begeisternde Sohn der schwarzen italischen Traube,

Uns mit Lächeln gereicht in der herzerfreuenden Hütte,

Neues Leben in uns gebar, und die schäumenden Gläser

Unter Jubelgesang erklangen, zur Ehre der Freiheit.

Lieber! wie war uns da! – bei solchem Mahle begehret

Nichts auf Erden die Brust, und alle Kräfte gedeihen.


Lieber! er schwand so schnell, der köstliche Tag; in der kühlen


Dämmerung schieden wir; an den Heiligtümern der Freiheit

Wallten wir dann vorbei in frommer seliger Stille,

Faßten sie tief ins Herz, und segneten sie, und schieden!


Lebt dann wohl, ihr Glücklichen dort! im friedsamen Tale


Lebe wohl, du Stätte des Schwurs!4 dir jauchzten die Sterne,

Als in heiliger Nacht der ernste Bund dich besuchte.

Herrlich Gebirg! wo der bleiche Tyrann den Knechten vergebens,

Zahm und schmeichlerisch Mut gebot – zu gewaltig erhub sich

Wider den Trotz die gerechte, die unerbittliche Rache –

Lebe wohl, du herrlich Gebirg5. Dich schmückte der Freien

Opferblut – es wehrte der Träne der einsame Vater.

Schlummre sanft, du Heldengebein! o schliefen auch wir dort

Deinen eisernen Schlaf, dem Vaterlande geopfert,

Walthers Gesellen und Tells, im schönen Kampfe der Freiheit!
[148]

Könnt ich dein vergessen, o Land, der göttlichen Freiheit!


Froher wär ich; zu oft befällt die glühende Scham mich,

Und der Kummer, gedenk ich dein, und der heiligen Kämpfer.

Ach! da lächelt Himmel und Erd in fröhlicher Liebe

Mir umsonst, umsonst der Brüder forschendes Auge.

Doch ich vergesse dich nicht! ich hoff und harre des Tages,

Wo in erfreuende Tat sich Scham und Kummer verwandelt.

Fußnoten

1 Marien-Einsiedel.


2 Ein ungeheurer pyramidalischer Fels auf der Spitze des Hakenbergs.


3 Der Waldstättersee.


4 Rütli, eine Wiese nah am Waldstättersee, dem Mytenstein gegenüber, wo Walther Fürst und seine Gesellen schwuren: »Frei zu leben oder zu sterben!«


5 Morgarten, auf dem Sattelberge.


Quelle:
Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. 6 Bände, Band 1, Stuttgart 1946, S. 145-149.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Ebner-Eschenbach, Marie von

Ein Spätgeborner / Die Freiherren von Gemperlein. Zwei Erzählungen

Ein Spätgeborner / Die Freiherren von Gemperlein. Zwei Erzählungen

Die beiden »Freiherren von Gemperlein« machen reichlich komplizierte Pläne, in den Stand der Ehe zu treten und verlieben sich schließlich beide in dieselbe Frau, die zu allem Überfluss auch noch verheiratet ist. Die 1875 erschienene Künstlernovelle »Ein Spätgeborener« ist der erste Prosatext mit dem die Autorin jedenfalls eine gewisse Öffentlichkeit erreicht.

78 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon