Vorrede zur dritten Auflage

[12] Das ist der alte Märchenwald!

Es duftet die Lindenblüte!

Der wunderbare Morgenglanz

Bezaubert mein Gemüte.


Ich ging fürbaß, und wie ich ging,

Erklang es in der Höhe.

Das ist die Nachtigall, sie singt

Von Lieb' und Liebeswehe.


Sie singt von Lieb' und Liebesweh,

Von Tränen und von Lachen,

Sie jubelt so traurig, sie schluchzet so froh,

Vergessene Träume erwachen. –


Ich ging fürbaß, und wie ich ging,

Da sah ich vor mir liegen

Auf freiem Platz ein großes Schloß,

Die Giebel hoch aufstiegen.


Verschlossene Fenster, überall

Ein Schweigen und ein Trauern;

Es schien, als wohne der stille Tod

In diesen öden Mauern.


Dort vor dem Tor lag eine Sphinx,

Ein Zwitter von Schrecken und Lüsten,

Der Leib und die Tatzen wie ein Löw',

Ein Weib an Haupt und Brüsten.
[12]

Ein schönes Weib! Der weiße Blick,

Er sprach von wildem Begehren;

Die stummen Lippen wölbten sich

Und lächelten stilles Gewähren.


Die Nachtigall, sie sang so süß –

Ich konnt nicht widerstehen –

Und als ich küßte das holde Gesicht,

Da war's um mich geschehen.


Lebendig ward das Marmorbild,

Der Stein begann zu ächzen –

Sie trank meiner Küsse lodernde Glut

Mit Dürsten und mit Lechzen.


Sie trank mir fast den Odem aus –

Und endlich, wollustheischend,

Umschlang sie mich, meinen armen Leib

Mit den Löwentatzen zerfleischend.


Entzückende Marter und wonniges Weh!

Der Schmerz wie die Lust unermeßlich!

Derweilen des Mundes Kuß mich beglückt,

Verwunden die Tatzen mich gräßlich.


Die Nachtigall sang: »O schöne Sphinx!

O Liebe! was soll es bedeuten,

Daß du vermischest mit Todesqual

All deine Seligkeiten?


O schöne Sphinx! O löse mir

Das Rätsel, das wunderbare!

Ich hab darüber nachgedacht

Schon manche tausend Jahre.«


Das hätte ich alles sehr gut in guter Prosa sagen können... Wenn man aber die alten Gedichte wieder durchliest, um ihnen, behufs eines erneueten Abdrucks, einige Nachfeile zu erteilen,[13] dann überschleicht einen unversehens die klingelnde Gewohnheit des Reims und Silbenfalls, und siehe! es sind Verse, womit ich die dritte Auflage des »Buchs der Lieder« eröffne. O Phöbus Apollo! sind diese Verse schlecht, so wirst du mir gern verzeihen... Denn du bist ein allwissender Gott, und du weißt sehr gut, warum ich mich seit so vielen Jahren nicht mehr vorzugsweise mit Maß und Gleichklang der Wörter beschäftigen konnte... Du weißt, warum die Flamme, die einst in brillanten Feuerwerkspielen die Welt ergötzte, plötzlich zu weit ernsteren Bränden verwendet werden mußte... Du weißt, warum sie jetzt in schweigender Glut mein Herz verzehrt... Du verstehst mich, großer schöner Gott, der du ebenfalls die goldene Leier zuweilen vertauschtest mit dem starken Bogen und den tödlichen Pfeilen... Erinnerst du dich auch noch des Marsyas, den du lebendig geschunden? Es ist schon lange her, und ein ähnliches Beispiel tät wieder not... Du lächelst, o mein ewiger Vater!


Geschrieben zu Paris, den 20. Februar 1839


Heinrich Heine[14]

Quelle:
Heinrich Heine: Werke und Briefe in zehn Bänden. Band 1, Berlin und Weimar 21972, S. 12-15.
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