Parabel

[127] Erlaubt mir, daß ich 'mal berichte

Euch eine alberne Geschichte:

Sie kommt mir eben in den Sinn,

Geduld ist deutsch, drum nehmt sie hin.


War eine brave, brave Frau,

Die nahm's im Dienste wohl genau,

Und macht', so brav sie auch gewesen,

Doch niemals vieles Federlesen.


Die Frau hatt' einen muntern Hahn,

Der kräht' ihr stets den Morgen an,

Und war nach seiner Hahn-Natur

Für sie die allerbeste Uhr.


Sobald den Tag er angesagt,

Da weckt' die Frau die faule Magd,

Was unsre Magd gar schwer verdroß,

Daß sie im Grimme einst beschloß,
[127]

Dem Vogel zu stutzen seine Schwingen

Und, meld' ich's kurz, ihn umzubringen.

Es war gedacht, es war getan,

Die Götter bekamen einen Hahn.


Was aber hat die Magd gewonnen?

Die sonst geweckt ward mit der Sonnen,

Ward nun geweckt um Mitternacht,

Nachdem den Hahn sie umgebracht.


Ach! sprach die Magd, die schwer Betörte,

Wenn ich den Hahn doch krähen hörte!

Sein Krähen hat so schön geklungen,

Als hätt' eine Nachtigall gesungen.


»Und nun der Witz? wir bitten dich!«

Ihr kennt die Frau so gut wie ich;

Sie ist die schönste weit und breit,

Ihr Anblick die volle Seligkeit.


Ihr kennt wohl auch des Nachbars Hahn,

Dem ihr soviel zuleid getan;

Und wenn ihr mich nach dem Dritten fragt:

»Du, deutsches Volk, du bist die Magd!«


Doch wenn ihr den Hahn auch mordet, ihr Sklaven,

So denkt darum nicht länger zu schlafen,

Erst weckt' euch die Frau nach dem Hahnenschrei,

Nun ist's mit dem Schlummer auf ewig vorbei.


Die Freiheit kommt wie ein Dieb in der Nacht

Und ruft euch zu: »Erwacht! erwacht!«


Quelle:
Herweghs Werke in drei Teilen. Band 1, Berlin, Leipzig, Wien, Stuttgart [1909], S. 127-128.
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