An die Karschinn[202] 1

Mich sehen willst Du, Lalage,

Des Phöbus hoch begeisterte!

Mich kleinen Sänger kleiner Lieder?

Weil Dein Gliphästion mich liebt

Und, als den jüngsten seiner Brüder,

Zum Preise für die kleinen Lieder

Mir unverdiente Kränze giebt?

Ach! zu bezauberndem Gesang

Ist Feuer nicht in meinem Busen;

Nur die gefälligste der Musen

Hört dieser Flöte leichten Klang,

Der nie zu Götterohren drang.

Wenn Könige die Welt bekriegen,

Dann forsch' ich nicht nach ihren Siegen;

Dann, ungestört in meiner Ruh,[203]

Seh' ich den holden Knaben zu,

Die, ohne Länder zu verwüsten,

Sich mit dem Silberbogen rüsten,

Und ihnen stimm' ich Lieder an.

Hier zeichnen sie; die schlauen Götter,

Auf Rosen- und auf Myrthenblätter

Zu ihren Schlachten sich den Plan;

Dort hör' ich aus verschwiegnen Büschen

Die unsichtbaren Pfeile zischen:

Getroffen sinkt die Schäferin

Auf den beblümten Rasen hin.

Die Suada, die das Ungeheuer

Mit Recht und Menschlichkeit versöhnt,

Die, süß wie Deine goldne Leyer,

Von angenehmen Lippen tönt,

O hätt' ein Gott sie mir verliehen!

Dann lebten, weit um mich herum,

Nur Bürger aus Elysium,

Und jede Bosheit müßte fliehen.

Ein überredender Merkur,

Wollt' ich die sanftre Weisheit lehren,

Gezeugt im Schooße der Natur,

Gebildet in der Freundschaft Chören?

Mir aber gab der Himmel nur

Ein Herz voll zärtlicher Gefühle,

Dem auch die allerkleinsten Spiele[204]

Der jungen Freunde heilig sind,

Das nie Gesang und Jubel störet,

Der Tugend leisre Stimme höret,

Und gute Seelen leicht gewinnt.

Nur sie kann dieses Herz beglücken:

Dein Schäfer widerstand ihm nicht;

Er kennt im Freundes-Angesicht

Die reine Wonne, das Entzücken,

Das, ohne Wort, aus treuen Blicken

Oft mächtiger als ein Gedicht,

Und süßer als die Suada, spricht.


Dich, Lalage, Dich sah' ich schon

Im Tempel, den Gliphästion

Der Tugend und den Musen weihte;

Wo, voller Ehrfurcht, diese Hand,

Die nie den Thoren Weisheit streute,

Mit Lorbern den Altar umwand.

Als ich bewundernd vor Dir stand,

Da blicktest Du auf mich hernieder;

Dein Blick war Feuer, Dein Gewand

War ganz Natur, wie Deine Lieder.

Ich sah' in Dir die Sängerin,

Die, wenn sie über Saaten hin

Die schwarze Wetterwolke breitet,

Den Donner mit Gesang begleitet;[205]

Ich sah die frohe Lalage,

Die unter Rosen lächelte;

Und nun, mit aufgelösten Haaren,

Im Auge tödtende Gefahren,

Ein Weib; ihr Busen war durchwühlt

Von Flammen, die kein Zephyr kühlt,

Und die nur eine Sappho fühlt!


So zeigte Dich dein Bildniß mir:

Vielleicht, wenn sich das Jahr verjünget,

Und mit Dir Philomele singet,

Seh' ich die Freundin auch in Dir.

Fußnoten

1 Die Dichterin pflegte sich in ihren Liedern, besonders in den scherzhaften, Lalage, in den Oden aber Sappho zu nennen.


Quelle:
Johann Georg Jacobi: Sämmtliche Werke. Band 1, Zürich 1819, S. 202-206.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Ebner-Eschenbach, Marie von

Ein Spätgeborner / Die Freiherren von Gemperlein. Zwei Erzählungen

Ein Spätgeborner / Die Freiherren von Gemperlein. Zwei Erzählungen

Die beiden »Freiherren von Gemperlein« machen reichlich komplizierte Pläne, in den Stand der Ehe zu treten und verlieben sich schließlich beide in dieselbe Frau, die zu allem Überfluss auch noch verheiratet ist. Die 1875 erschienene Künstlernovelle »Ein Spätgeborener« ist der erste Prosatext mit dem die Autorin jedenfalls eine gewisse Öffentlichkeit erreicht.

78 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Spätromantik

Große Erzählungen der Spätromantik

Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.

430 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon