Beym Anblick eines Kupferstichs:

Aurora und Cephalus[248] 1

Im May 1784.


Auch mich hat einst, wie Cephalus,

Aurora! deines Mundes Kuß

Geweckt aus jugendlichen Träumen;

Auch mich hat einst, wenn an beglänzten Bäumen

Das frische Blatt des Frühlings Hauch verspürt,

Dein Götterarm hinweggeführt.

Da schwebt ich über grünen Höhen,

Da flammten unter mir die Seen;

Zu Balsam ward ein jeder Tropfen Thau;

Es stieg von blumenreicher Au[249]

Ein süßer Weihrauch; Vögel sangen

Von Liebe nur; und alle Sphären klangen

Von Erdenglück und Menschenseligkeit.


Wohin, wohin die goldne Zeit?

Wo blieb der Kuß von deinem Nektarmunde,

Bey welchem mich, in froher Schäferstunde,

Begeisterung, wie Morgenluft, umfloß,

Unsterblichkeit mich fest an ihren Busen schloß?

Verblichen ist an deinem Wagen

Der Purpur mir; es endet sich in Klagen

Des Waldes laute Melodie;

Und ausgezaubert hat für mich die Pantasie.


Aurora! wenn in bessern Tagen

Dir sorgenlos mein Herz entgegen schlug,

Wenn in dein Rosenlicht ich meine Leyer trug,

So laß, umwallt von diesen Blüthenhainen,

Mit deinem Strahl die Weisheit mir erscheinen,

Die nicht, als Zauberinn, empor den Jüngling hebt,

Als Freundinn aber, treu, mit ihm auf Erden lebt,

Aus Klarheit uns in Klarheit leitet,[250]

Und nach und nach zum Himmel vorbereitet!

Sie tröste mich, wenn Lieb' und May

Verstummen, alle Feerey

Der Hoffnung flieht, die Jugendträume schwinden,

Und ach! um Gräber nur sich Veilchenkränze winden.

Fußnoten

1 Die Göttinn der Morgenröthe zeigt sich auf einer Wolke, wie sie den von ihr geliebten und geraubten Cephalus von dannen trägt.


Quelle:
Johann Georg Jacobi: Sämmtliche Werke. Band 3, Zürich 1819, S. 248-251.
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