Die öffentlichen Verleumder

[259] Ein Ungeziefer ruht

In Staub und trocknem Schlamme

Verborgen, wie die Flamme

In leichter Asche tut.

Ein Regen, Windeshauch

Erweckt das schlimme Leben,

Und aus dem Nichts erheben

Sich Seuchen, Glut und Rauch.


Aus dunkler Höhle fährt

Ein Schächer, um zu schweifen;

Nach Beuteln möcht er greifen

Und findet bessern Wert:[259]

Er findet einen Streit

Um nichts, ein irres Wissen,

Ein Banner, das zerrissen,

Ein Volk in Blödigkeit.


Er findet, wo er geht,

Die Leere dürft'ger Zeiten,

Da kann er schamlos schreiten,

Nun wird er ein Prophet;

Auf einen Kehricht stellt

Er seine Schelmenfüße

Und zischelt seine Grüße

In die verblüffte Welt.


Gehüllt in Niedertracht,

Gleichwie in einer Wolke,

Ein Lügner vor dem Volke,

Ragt bald er groß an Macht

Mit seiner Helfer Zahl,

Die, hoch und niedrig stehend,

Gelegenheit erspähend,

Sich bieten seiner Wahl.


Sie teilen aus sein Wort,

Wie einst die Gottesboten

Getan mit den fünf Broten,

Das klecket fort und fort!

Erst log allein der Hund,

Nun lügen ihrer tausend;

Und wie ein Sturm erbrausend,

So wuchert jetzt sein Pfund.


Hoch schießt empor die Saat,

Verwandelt sind die Lande,[260]

Die Menge lebt in Schande

Und lacht der Schofeltat!

Jetzt hat sich auch erwahrt,

Was erstlich war erfunden:

Die Guten sind verschwunden,

Die Schlechten stehn geschart!


Wenn einstmals diese Not

Lang wie ein Eis gebrochen,

Dann wird davon gesprochen

Wie von dem schwarzen Tod;

Und einen Strohmann baun

Die Kinder auf der Heide,

Zu brennen Lust aus Leide

Und Licht aus altem Graun.


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 259-261.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gesammelte Gedichte
Die Leute von Seldwyla / Gesammelte Gedichte: BD 3
Sieben Legenden und Gesammelte Gedichte

Buchempfehlung

Wieland, Christoph Martin

Geschichte der Abderiten

Geschichte der Abderiten

Der satirische Roman von Christoph Martin Wieland erscheint 1774 in Fortsetzung in der Zeitschrift »Der Teutsche Merkur«. Wielands Spott zielt auf die kleinbürgerliche Einfalt seiner Zeit. Den Text habe er in einer Stunde des Unmuts geschrieben »wie ich von meinem Mansardenfenster herab die ganze Welt voll Koth und Unrath erblickte und mich an ihr zu rächen entschloß.«

270 Seiten, 9.60 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon