[481] Lisidor. Adrast.
LISIDOR. Da haben wirs! Schon wieder allein, Adrast? Sagen Sie mir, müssen die Philosophen so zu Winkel kriechen? Ich wollte doch lieber sonst was sein – – Und, wenn ich recht gehört habe, so sprachen Sie ja wohl gar mit sich selber? Nu, nu! es ist schon wahr: ihr Herren Grillenfänger könnt freilich mit niemand Klügerm reden, als mit euch selber. Aber gleichwohl ist unser einer auch kein Katzenkopf. Ich schwatze eins mit, es mag sein, von was es will.
ADRAST. Verzeihen Sie – –
LISIDOR. Je, mit Seinem Verzeihen! Er hat mir ja noch nichts zuwider getan – – Ich habe gern, wenn die Leute lustig sind. Und ich will kein ehrlicher Mann sein, wenn ich mir nicht eine rechte Freude darauf eingebildet habe, den Wildfang, wie sie Ihn sonst zu Hause nannten, zu meinem Schwiegersohne zu haben. Freilich ist Er seit dem groß gewachsen; Er ist auf Reisen gewesen; Er hat Land und Leute gesehen. Aber, daß Er so gar sehr verändert würde wiedergekommen sein, das hätte ich mir nicht träumen lassen. Da geht Er nun, und spintisiert von dem, was ist – – und was nicht ist, – – von dem, was sein könnte, und wenn es sein könnte, warum es wieder nicht sein könnte; – – von der Notwendigkeit, der halben und ganzen, der notwendigen Notwendigkeit, und der nicht notwendigen Notwendigkeit; – – von den A – A – – wie heißen die kleinen Dingerchen, die so in den Sonnenstrahlen herum fliegen? – – von den A – A – – Sage doch, Adrast – –[481]
ADRAST. Von den Atomis, wollen Sie sagen.
LISIDOR. Ja, ja, von den Atomis, von den Atomis. So heißen sie, weil man ihrer ein ganz Tausend mit Einem Atem hinunter schlucken kann.
ADRAST. Ha! ha! ha!
LISIDOR. Er lacht, Adrast? Ja, mein gutes Bürschchen, du mußt nicht glauben, daß ich von den Sachen ganz und gar nichts verstehe. Ich habe euch, Ihn und den Theophan, ja oft genug darüber zanken hören. Ich behalte mir das Beste. Wenn ihr euch in den Haaren liegt, so fische ich im trüben. Da fällt manche Brocke ab, die keiner von euch brauchen kann, und die ist für mich. Ihr dürft deswegen nicht neidisch auf mich sein; denn ich bereichere mich nicht von einem allein. Das nehme ich von dir, mein lieber Adrast; und das vom Theophan; und aus allen dem mache ich mir hernach ein Ganzes – –
ADRAST. Das vortrefflich ungeheuer sein muß.
LISIDOR. Wie so?
ADRAST. Sie verbinden Tag und Nacht, wenn Sie meine mit Theophans Gedanken verbinden.
LISIDOR. Je nu! so wird eine angenehme Dämmerung daraus. – – Und überhaupt ist es nicht einmal wahr, daß ihr so sehr von einander unterschieden wäret. Einbildungen! Einbildungen! Wie vielmal habe ich nicht allen beiden zugleich Recht gegeben? Ich bin es nur allzuwohl überzeugt, daß alle ehrliche Leute einerlei glauben.
ADRAST. Sollten! sollten! das ist wahr.
LISIDOR. Nun da sehe man! was ist nun das wieder für ein Unterscheid? Glauben, oder glauben sollen: es kömmt auf eines heraus. Wer kann alle Worte so abzirkeln? – – Und ich wette was, wenn ihr nur erst werdet Schwäger sein, kein Ei wird dem andern ähnlicher sein können. – –
ADRAST. Als ich dem Theophan, und er mir?
LISIDOR. Gewiß. Noch wißt ihr nicht, was das heißt, mit einander verwandt sein. Der Verwandtschaft wegen wird der einen Daumen breit, und der einen Daumen breit nachgeben. Und einen Daumen breit, und wieder einen Daumen breit, das macht zwei Daumen breit; und zwei Daumen[482] breit – – ich bin ein Schelm, wenn ihr die auseinander seid. – Nichts aber könnte mich in der Welt wohl so vergnügen, als daß meine Töchter so vortrefflich für euch passen. Die Juliane ist eine geborne Priesterfrau; und Henriette – – in ganz Deutschland muß kein Mädchen zu finden sein, das sich für Ihn, Adrast, besser schickte. Hübsch, munter, fix; sie singt, sie tanzt, sie spielt; kurz, sie ist meine leibhafte Tochter. Juliane dargegen ist die liebe, heilige Einfalt.
ADRAST. Juliane? Sagen Sie das nicht. Ihre Vollkommenheiten fallen vielleicht nur weniger in die Augen. Ihre Schönheit blendet nicht; aber sie geht ans Herz. Man läßt sich gern von ihren stillen Reizen fesseln, und man biegt sich mit Bedacht in ihr Joch, das uns andere in einer fröhlichen Unbesonnenheit überwerfen müssen. Sie redet wenig; aber auch ihr geringstes Wort hat Vernunft.
LISIDOR. Und Henriette?
ADRAST. Es ist wahr: Henriette weiß sich frei und witzig auszudrücken. Würde es aber Juliane nicht auch können, wenn sie nur wollte, und wenn sie nicht Wahrheit und Empfindung jenem prahlenden Schimmer vorzöge? Alle Tugenden scheinen sich in ihrer Seele verbunden zu haben – –
LISIDOR. Und Henriette?
ADRAST. Es sei ferne, daß ich Henrietten irgend eine Tugend absprechen sollte. Aber es gibt ein gewisses Äußeres, welches sie schwerlich vermuten ließe, wenn man nicht andre Gründe für sie hätte. Julianens gesetzte Anmut, ihre ungezwungene Bescheidenheit, ihre ruhige Freude, ihre – –
LISIDOR. Und Henriettens?
ADRAST. Henriettens wilde Annehmlichkeiten, ihre wohl lassende Dreustigkeit, ihre fröhlichen Entzückungen stechen mit den gründlichen Eigenschaften ihrer Schwester vortrefflich ab. Aber Juliane gewinnt dabei – –
LISIDOR. Und Henriette?
ADRAST. Verlieret dabei nichts. Nur daß Juliane – –
LISIDOR. Ho! ho! Herr Adrast, ich will doch nicht hoffen, daß Sie auch an der Narrheit krank liegen, welche die[483] Leute nur das für gut und schön erkennen läßt, was sie nicht bekommen können. Wer Henker hat Sie denn gedungen, Julianen zu loben?
ADRAST. Fallen Sie auf nichts Widriges. Ich habe bloß zeigen wollen, daß mich die Liebe für meine Henriette gegen die Vorzüge ihrer Schwester nicht blind mache.
LISIDOR. Nu, nu! wenn das ist, so mag es hingehen. Sie ist auch gewiß ein gutes Kind, die Juliane. Sie ist der Augapfel ihrer Großmutter. Und das gute, alte Weib hat tausendmal gesagt, die Freude über ihr Julchen erhielte sie noch am Leben.
ADRAST. Ach!
LISIDOR. Das war ja gar geseufzt. Was Geier ficht Ihn an? Pfui! Ein junger gesunder Mann, der alle Viertelstunden eine Frau nehmen will, wird seufzen? Spare Er Sein Seufzen, bis Er die Frau hat.
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