§ 16

[176] Der grosse Fehler – nicht der Materjalisten – sondern der Psicho-Fisiker war, dass sie von der Erscheinungswelt stets rückwärts zu gehen versuchten. Sie glaubten immer von der Materie aus durch Rückwärtsgehen auf die Psiche zu stossen – und es war einerlei, ob sie diesen Schritt in der Aussenwelt vom Objekt zu seiner Perzepzion, oder im Gehirn von einer Ganglienzelle zur Vorstellung machten – obwohl sie sich nach dem stets mislungenen Erfolg sagen mussten, dass der Schritt eigentlich ja nicht zu machen sei. Denn Etwas von Descartes hatten sie ja doch behalten. Sie befanden sich in der misslichen Lage Jener, die auf der Brücke stehen, und in den vor ihnen vorauseilenden Fluss blicken. Sie erleben die Täuschung, dass sie sich mit der Brücke und den Ufern nach rückwärts bewegen. Aber, sobald sie aufschauen, sehen sie, dass Alles am alten Plaz[176] ist. Wir können durch Rükschluss von der Materje nimmermehr auf die Psiche stossen. Viel eher hätten wir Ursache, von der Psiche aus durch Vorwärtsdringen auf die Materje zu stossen, wie Berkeley und Kant versuchten. Denn wie uns die Untersuchung der Energie unserer Sinnes-Organe zeigt, liegt der ganze Aspekt der Aussenwelt in ihrer (der Sinnes-Organe) Funkzion beschlossen. Nachdem also konstatirt war, dass der süsse Geschmak des Apfels nicht am Apfel sondern in meiner Zunge, und nicht in meiner Zunge sondern in meinem Geschmaksnerven, und nicht in meinem Geschmaksnerven sondern in der von ihm versorgten Rindenpartie des Gehirn's, und nicht in dieser Rindenpartie sondern in meiner Vorstellung ruht, solte man doch das so gewonnene sichere Ergebnis in dem Axiom festhalten, dass der Apfelgeschmak ein von der Vorstellung auf den Apfel übertragenes Etwas sei, statt die Apfelsüsse immer wieder von der Aussenwelt durch Mund und Nerven ins Gehirn wandern zu lassen, wo sie unweigerlich steken bleibt, da Niemand einsehen kann, wie aus einer Parzelle Gehirns eine Vorstellung werden kann; wobei es einerlei ist, ob ich statt Apfelsüsse »Reiz«, oder »Bewegung« sage. War aber das Ergebnis des Vordringens der Empfindung des Süssen aus der Vorstellung auf den Apfel in der Aussenwelt gesichert – und soweit war schon die Transzsendentalfilosofie Kant's – dann musste, da der Sprung von Psichischem auf Körperliches ebensowenig erfolgen konte, das Körperliche selbst, und damit die Aussenwelt, als ein im Psichischen beschlossenen Kern, als ein mit ihm Gegebenes erkant werden, und Körperlichkeit und Räumlichkeit der Aussenwelt als Illusion. –

Der Gehirn-Anatom also, der auf ein der Leiche entnommenes Gehirn starrt, um hier Residuen von Gedanken zu finden, begeht von seinem Denken aus denselben Fehler, wie ein Fotograf, der aus Betrachtung einer Negativ-Platte Schlüsse auf die Natur – des Lichts ziehen wollte. Beide haben nur die eine Hälfte des Prozesses vor sich – dieser verteilte Silbersalze, jener Gehirnmasse – und als ein Substrat, in dem der gesuchte Prozess garnicht stattfindet. Denn weder findet Denken als Gehirn, noch Lichtwellen als[177] Silbersalze statt. Keiner könnte einen Rükschluss von seiner Materje auf die Art des Induktors machen. Der Gehirn-Anatom beginge aber ausserdem den Fehler, dass er einen Prozess in einem Medium untersuchte, in dem dieser Prozess gar nicht stattfindet. Denn in der Aussenwelt wird nicht gedacht. Ebenso gut könnte er Verbrennungsprozesse unter Wasser untersuchen wollen. Oder Farben im Dunkeln. Er sähe nichts.

Eine harte Nuss für unsere Materjalisten und materjalistischen Fisiologen war stets die Beantwortung der Frage: wie es komme, dass die Gegenstände der Aussenwelt, die durch die Linse unseres Auges auf dem Augenhintergrund umgekehrt erscheinen, von uns aufrecht gesehen werden. Meist wurde die Antwort in der dualistischen Fassung gegeben, die den Unterschied zwischen Geist und Körper noch immer festhält: dass nämlich, da unser Körper doch selbst in der Aussenwelt sich befinde, er gleichfalls unter dem Gesichtspunkt des »Umgekehrtseins« sich erscheine, womit, da Alles umgekehrt, Alles gleichgerichtet und in harmonischer Ordnung erscheine; sowie: dass das optische Bild eines Gegenstandes mit der betreffenden Empfindung des Gegenstandes erst zu einer Einheit »verschmelzen« müsse, in der die Kontrolle von »Oben« und »Unten« nicht mehr angehe. – Auf den viel näher liegenden Einwurf und Zurükweisung der Frage – denn um die handelt es sich, nicht um eine Beantwortung – dass der Gegenstand, den ich sehe, z.B. ein Baum, doch nicht in mein Gehirn dringt, geschweige in meine Vorstellung, und dass die Vorstellung des Baums etwas vom Baum selbst in der Aussenwelt Grundverschiedenes, und ein in einem ganz anderen Medium stattfindender Vorgang, ist – ein noch immer im Bereich dualistischer Auffassung sich haltender Einwurf – ist meines Wissens Niemand gekommen. Und Helmholtz bemerkt mit Recht, der Streit um das Aufrechtsehen unter den Fisiologen beweise nur, dass selbst wissenschaftliche Männer das rein subjektive Moment unserer Empfindungen nicht zu überschauen im Stande wären.–Nur Lange (Gesch. des Materialismus 3. Aufl. 1876) dringt bei Besprechung des [178] Überweg'schen Einwurfs, der ebenfalls noch immer dualistisch gehalten ist: eine Projekzion unserer Wahrnehmungen aus der Aussenwelt in die Aussenwelt zurük fände nicht statt, – bis zur erkentnisteoretischen Forderung vor: eine Konsequenz der Überweg'schen Anschauung sei: »dass der Raum, den wir wahrnehmen, nur der Raum unseres Bewusstseins sei;« also bis zu einer Leugnung der Aussenwelt; ohne jedoch diese Anschauung zu der seinigen zu machen. –

Für unsere Auffassung ist die Stellung der Frage nach dem Grund des Aufrechtsehens der Dinge fast unverständlich. Denn nachdem wir die Aussenwelt als einen im Denken selbst und mit ihm stattfindenden Prozess erkant haben, kann es uns einerlei sein, ob ein Ding der Aussenwelt im andern Ding der Aussenwelt sich »unten zu oberst« oder »rechter Hand linker Hand beides vertauscht« spiegelt. Und die Frage erscheint uns ebenso tiefsinnig, wie die: wesshalb ein Objekt, das in der Camera obscura des fotografischen Apparats umgekehrt erscheint, ausserhalb des Apparats aufrecht sei; oder: wesshalb ein in das Wasser gehaltener Stock dort gebrochen erscheine; oder: wesshalb die im Spiegelbild linke Hand einer Person in der Aussenwelt dessen rechte sei; u. drgl. –

Quelle:
Oskar Panizza: Die kriminelle Psychose, genannt Psichopatia criminalis. München 1978, S. 176-179.
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